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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Es kann auch Niemand hineinkommen? aus dem Tanzsaale da?“

„Sie können sich darin einschließen.“

„Wer tanzt dort?“

„Die fremden Soldaten.“

„Sie hatten mir gesagt, es werde hier heute Nacht still sein.“

„Es ist nicht meine Schuld, Madame. Diese fremden Soldaten spielen hier die Herren. Ich wollte sie zurückweisen; sie drohten mit Gewalt.“

„Führen Sie mich in mein Zimmer.“

Die Wirthin kehrte in die Küche zurück und kam gleich darauf mit einem Lichte und einem Schlüssel wieder. Meine Begleiterin hatte mich unterdeß durch ihren Schleier betrachtet.

„Sie bleiben bei mir, mein Herr!“ bat sie mich dann leise.

„Ich bitte Sie, verlassen Sie mich nicht.“

„Ich verlasse Sie nicht.“

Die Wirthin schloß eine Thür seitwärts von der des Tanzsaals auf. Wir traten in eine einfach meublirte, ziemlich reinliche Stube.

Die Wirthin stellte das Licht auf einen Tisch. „Wünschen Sie etwas?“ fragte sie.

„Nein.“

Sie verließ das Zimmer. Sie hatte mich nur einen Augenblick neugierig angesehen, aber ohne alle Frechheit der Neugierde solcher Weiber. Der Fremden war sie mit einer Art von Ehrerbietung begegnet. Jeder Gedanke an ein galantes Abenteuer war aus meinem Innern verschwunden. Aber was wollte, was erwartete die Fremde hier, daß sie mich so dringend gebeten hatte, sie nicht zu verlassen? Und anfangs bei unserem ersten Begegnen hatte sie meine Begleitung so entschieden zurückgewiesen.

Die Stube, in der wir uns befanden, stieß an den Tanzsaal, sie lag aber hinter diesem; sie mußte an der Rückseite des Hauses liegen. Sie hatte nur die eine, auf den Flur führende Thür, durch die wir eingetreten waren. Der Thür gegenüber waren zwei Fenster, die dicht mit Vorhängen bedeckt waren.

„Darf ich Sie bitten, die Thür von innen abzuschließen?“ bat mich meine Begleiterin.

Ich that es. Als ich fertig war und mich wieder nach ihr umsah, saß sie an einem der Fenster. Sie schien mit großer Aufmerksamkeit hindurch zu blicken; sie hatte den Vorhang zur Seite geschoben. Von ihrem Gesichte hatte sie den Schleier zurückgeschlagen. Ich konnte dennoch nichts von ihrem Gesichte sehen. Sie hatte es fest an die Scheiben des Fensters gedrückt. Ich war neugierig, wonach sie so angelegentlich ausschaute. Ich trat an das zweite Fenster. Die beiden Fenster führten auf einen schmalen Hof. Unmittelbar an dessen anderer Seite erhob sich ein hohes, langes, dunkles Gebäude mit Flügeln, Vorsprüngen und Thürmen. Ich kannte es. Ich hatte es oft gesehen, freilich nicht von dieser Seite, sondern in seiner Hauptfront, die an der um die Stadt führenden Promenade lag.

„Das ist ja das Zuchthaus!“ rief ich überrascht.

„Ja, es ist das Zuchthaus,“ erwiderte die Fremde kalt und eintönig, und es war mir, als wenn der Ton mir in das Herz schneide.

Meine Augen mußten weiter forschen, was sie in oder an dem dunkeln Gebäude suchen möge. Ich hatte es bald entdeckt. Gerade unseren beiden Fenstern gegenüber und fast in derselben Höhe mit ihnen war in dem Zuchthause ein hohes, breites Fenster. Man sah durch dasselbe in einen weiten, sehr hell erleuchteten Raum. Weiter aber konnte man nichts unterscheiden. In dem Raume mußte eine große Hitze herrschen. Das Fenster war von dickem Schweiße bedeckt, der verhinderte, irgend einen Gegenstand auf dessen anderer Seite klar zu erkennen. Nur eine Menge von Gestalten glaubte man in dunkeln, ungewissen Umrissen zu gewahren. Stimmen von Menschen, manchmal von mehreren zugleich, ein paar Mal einem allgemeineren Gemurmel oder Gesumme ähnlich, schienen die Anwesenheit vieler Menschen in dem Raume zu bestätigen.

Dahin waren Auge und Ohr meiner Begleiterin gerichtet, angelegentlich, gespannt. Ich hatte keine Ahnung davon, was dort vorgehen, was die Fremde durch das Dunkel der Mitternacht, durch die Einsamkeit verrufener Straßen hierher geführt haben, was jetzt ihr ganzes Denken und Sein so völlig in Anspruch nehmen könne. Sie saß, das Gesicht an die Scheiben gedrückt, unbeweglich wie eine Bildsäule da. Und doch konnte sie nichts sehen, als eine in das Unbestimmteste verschwimmende Masse von Gestalten, und nichts hören, als schwache, kaum vernehmbare, vollkommen unverständliche Laute von Menschenstimmen.

Nach einiger Zeit wurde ein Flügel des großen Fensters gegenüber halb geöffnet. Wahrscheinlich war die Hitze in dem Raume groß geworden. Man unterschied eine Menge Menschen. Sie befanden sich in einem weiten Saale, an dessen weißen Wänden Lampen brannten. Sie saßen in langen Reihen, mit dem Rücken nach uns gewandt. Es waren Herren und Damen zu unterscheiden, Damen, wie es schien, in reichen Toiletten, Herren vielfach in Uniform.

Mir fiel unwillkürlich jene Aristokratie ein, die heute im Theater gefehlt hatte und einem anderen, interessanteren Schauspiele beiwohne. In der That schienen sie vor einem Schauspiele zu sitzen. Ganz hinten in dem Saale standen mehrere Lichter auf einem Tische. Hinter und zu beiden Seiten neben den Lichtern sah man neue Gestalten. Sie bewegten sich nicht. Aber von dort her kamen Stimmen; dort hinten an dem Tische wurde gesprochen. Ich konnte unter den Personen, die sich dort befanden, nur einen starken Mann besonders unterscheiden. Er schien zu stehen, während die Uebrigen saßen. Bewegungen seiner Hände zeigten, daß er sprach. Zu verstehen war auch jetzt nichts.

Das Fenster war nach der Seite hin geöffnet, wo meine Begleiterin saß; sie konnte vielleicht mehr sehen, als ich. Sie war plötzlich aufgefahren. Dann hatte sie leise ihr Fenster geöffnet; nur wenig, nur ein paar Zoll weit, um eben hindurch horchen zu können. Ich vernahm an meinem Fenster darum nicht mehr. Doch nach einer Weile hörte ich deutlich ein lautes Gelächter. Es kam aus den Reihen der vornehmen Herren und Damen, der Zuschauer und Zuhörer. Die Fremde fuhr heftig von dem Fenster zurück.

„Es ist entsetzlich!“ rief sie.

Als ich nach ihr hinblickte, hatte sie schon wieder horchend und schauend das Gesicht an das Fenster gepreßt. Auf einmal flog sie wieder zurück. In dem Saale drüben war, wie ich deutlich hatte erkennen können, ein alter Mann mit wenigen schneeweißen Haaren erschienen. Er hatte sich dem starken Herrn genaht, der an dem erleuchteten Tische stand und zu sprechen schien. Er hatte diesem etwas überreicht, wie es mir vorkam, ein Papier. Ich glaubte wahrzunehmen, wie in dem Saale zuerst ein allgemeines Geflüster, dann eine tiefe Stille entstand. Die Blicke der Zuschauer schienen nur auf den Greis und den starken Herrn gerichtet zu sein. Es war wirklich ein Papier, das dieser von jenem erhalten hatte. Er öffnete, er las es. Die tiefste Stille währte in dem Saale fort. Der Lesende ließ plötzlich die Hand mit dem Papiere sinken. Er sah nach Jemandem hin. Er verließ seinen Platz. Ich konnte nicht sehen, wohin er gegangen war.

Meine Begleiterin stieß einen Schmerzensschrei aus.

„Allmächtiger Gott! Es ist Alles vorbei!“

Sie war von ihrem Fenster zurückgeflogen. Sie kam auf mich zu. Ich sah zum ersten Male ihr Gesicht. Es war völlig entschleiert. Meine Phantasie hatte in dem finsteren Straßenwinkel mir dieses Gesicht bildschön, aber leichenblaß, mit dunklen, drohenden Augen gezeichnet. Wie weit war sie hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben! Nie habe ich ein edel schöneres und leichenblasseres Gesicht gesehen, nie aber auch in einem Gesichte mehr Schmerz und Leid und Angst und Zorn.

Sie war noch jung. Sie konnte in der Mitte der zwanziger Jahre sein. Und diese Frau hatte ich leichtfertig verfolgt! Mit ihr hatte ich ein galantes Straßenabenteuer bestehen wollen! Ich stand beschämt vor ihr. Meine Scham konnte nur durch den festen Entschluß ausgelöscht werken, mich ihrem Dienste zu weihen, mochte sie von mir fordern, was sie wollte. Sie sah mich mit den dunkeln Augen bittend an.

„Mein Herr, auch Sie haben in den Saal drüben geblickt?“

„Ja, Madame.“

„Sie haben den alten Mann gesehen, der eintrat?“

„Ich habe ihn gesehen.“

„Ich habe eine Bitte an Sie.“

„Befehlen Sie über mich.“

„Der alte Mann ist mein Diener. Ich muß ihn sprechen. Er weiß nicht, daß ich hier bin. Führen Sie ihn zu mir. Eilen Sie. Wenn Sie links um dieses Haus gehen, so kommen Sie durch eine kleine Gasse an ein Gitterthor, das Sie unmittelbar zu jenem Theile des Zuchthauses führt.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_371.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)