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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

leichte Schritt es nicht zeigte. So meinte ich. Ich wollte auch ihr Gesicht sehen. Sie trug einen dichten Schleier.

„Meine Schöne, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?“

„Ich danke Ihnen.“

Sie sagte es kurz und abweisend und deutlich genug.

„Aber daß ich Sie begleite, werden Sie mir erlauben?“

„Ich danke Ihnen auch dafür.“

„Sie sind allein.“

„Und ich wünsche es zu bleiben.“

„Sie gehen einer verrufenen Gegend zu.“

„Um so mehr hätten Sie Veranlassung, mir nicht zu folgen.“

„Ah, wenn Sie mir anderswohin folgen wollten?“

„Mein Herr, verlassen Sie mich.“

„Jetzt wahrhaftig nicht mehr.“

Ich wollte ihren Arm nehmen. „Mein Herr!“ rief sie drohend.

Ich war in der That schon mitten in einem Abenteuer. Mitten in der Nacht in einer abgelegenen, dunklen Straße einer großen Stadt, allein mit einem fremden Frauenzimmer, das einsam die Straßen durchstrich, dem verrufensten Theile der Stadt zuging, einem Quartier, das darum das schlechte Viertel genannt wurde, weil die Hefe der Einwohnerschaft dort lebte und verkehrte. Und dieses Frauenzimmer hatte jene hohe, stolze Gestalt, schwebte in leichter, edler Haltung neben mir; ihr dunkles Kleid rauschte an meiner Seite wie schwere Seide; sie sprach in einem gebildeten Tone; sie wies mich strenge, befehlend zurück. Ich konnte, ich durfte mich nicht zurückweisen lassen.

„Ei, meine Schöne, eine Frau, die um Mitternacht allein durch eine dunkle, einsame Straße geht, muß die Begleitung eines Mannes annehmen, der sich ihr anbietet; ich werde Sie daher nicht verlassen. Ich werde Sie begleiten, wohin Sie nun einmal gehen. Haben Sie Ihr Ziel erreicht, so können Sie dann mit mir machen, was Sie wollen.“

Sie hatte sich besonnen.

„Wohl, mein Herr, die Straße ist auch für Sie frei. Aber ich erwarte von Ihrer Ehre, daß Sie keinen Versuch machen, mich anzurühren.“

„Bis Sie selbst mich um meinen Arm bitten,“ lachte ich.

Sie antwortete mir nicht. Die Gasse, in der wir gingen, war sehr schmal; ein Wagen hätte dort nicht fahren können; sie mußte dicht an meiner Seite gehen.

Auf einmal – sie war rasch, aber nur wenige Schritte vorangegangen – blieb sie stehen.

„Geben Sie mir Ihren Arm, mein Herr.“

„Ah, jetzt schon?“

„Schweigen Sie. Lassen Sie uns langsamer gehen; hier, auf die Seite!“

Sie hatte meinen Arm genommen. Ich mußte sie aus der Mitte der Straße, in der wir gingen, zur Seite, unmittelbar an die Häuser und in deren tieferes Dunkel führen. Es war ein runder, weicher Arm, den sie in den meinigen gelegt hatte. Eine schöne, schlanke, volle Gestalt lehnte sich an mich. Aber der Arm war eisig kalt und die ganze Gestalt zitterte.

„Lassen Sie mich einen Augenblick ausruhen,“ bat sie, „bis jene vorüber sind.“

Wir hatten wieder eine Querstraße durchschritten. Ein Geräusch war uns daraus entgegengekommen, ein gleichmäßiger Tritt von mehreren Menschen – wie der Marsch eines Trupps Soldaten. Gesehen hatten wir in der Dunkelheit nichts. Wir waren schon nahe an dem schlechten Viertel; Straßenlaternen brannten dort gar nicht mehr, sie sind für den Luxus der Städte da, an Sitte und Wohlfahrt denkt man bei ihnen nicht.

Die Tritte kamen an uns vorüber. Es war wirklich eine Militärpatrouille, die in die Straße hinein marschirte. Wir waren zwischen zwei Häuser getreten, um ihnen Platz zu machen.

Ich hatte einmal daran gedacht, während wir in dem tiefen Dunkel allein da standen, die schöne Frau an mich zu drücken, aber ich konnte es nicht. Die Kälte des Armes, das Zittern, die bittende Stimme: „Lassen Sie mich einen Augenblick ausruhen!“ – Alles hielt mich zurück. Ich dachte mir dabei ihr Gesicht, bildschön, aber leichenblaß, aus dunklen Augen flehend und zugleich drohend zu mir gewandt. Ich wollte die dunkle Nacht, den schwarzen Schleier, der es bedeckte, durchbohren; ich sah nichts, aber ihr Zittern war stärker geworden.

„Kommen Sie,“ sagte sie hastig, als die Soldaten vorbei waren.

Wir gingen weiter in die Straße hinein, hinter der Patrouille her. Die Soldaten marschirten im Geschwindschritt, und wir hatten sie nach wenigen Minuten aus den Augen verloren und hörten nichts mehr von ihnen. Wir waren in dem schlechten Viertel angelangt; eine Menge kleiner, enger, krummer und dunkler Straßen durchkreuzten sich hier, lösten einander ab. Sie waren überall völlig leer, wir Beiden waren die einzigen lebenden Wesen darin. Stand jene Militärpatrouille mit dieser ungewöhnlichen Leere in Verbindung? Es war schon damals eine eigenthümliche Zeit. Bei unserer Ankunft in der Stadt hatten wir nur erfahren, daß am Tage vorher fremdes Militair eingerückt sei.

Meine Begleiterin führte mich mit sicherem Schritt weiter; sie schien jede der engen Straßen zu kennen, trotz Gewirre, trotz Dunkelheit. In dieser Gegend der Sünde, des Lasters, der Rohheit, der Verbrechen, des Elends? Sie, die hohe, schöne Gestalt, mit der stolzen Haltung, in dem seidenen Gewände? Auf ein galantes Abenteuer hatte ich längst verzichtet. Ich sah nur immer das blasse, leidende Gesicht, von dem ich dennoch nichts hatte sehen können. Aber wer war sie? Wohin führte sie mich? Ich dachte darüber nach.

Wir gingen schweigend neben einander. Ihr Schritt war hastiger, ungeduldiger geworden. Wir waren tiefer in das Straßengewirr des schlechten Viertels hineingekommen. In der Finsterniß war es bisher auch still gewesen; selten war uns ein Mensch begegnet, er war still an uns vorübergegangen. Es fing an lebendiger zu werden, nicht auf der Straße, aber in einzelnen Häusern. Die Laden der Fenster waren fest verschlossen, nur dann und wann drang ein dünner Lichtstrahl durch die Ritzen auf die Straße; aber hinter den dunklen Läden war es laut. Heisere Männerstimmen lärmten, Frauenstimmen riefen grell dazwischen; Gläser und Krüge stießen an einander.

Aus einem Hause tönte uns Musik entgegen. Oben waren die Fenster erleuchtet, und an dem trüben, schwitzenden Glase sah man tanzende Paare vorüberfliegen. Auf das Haus führte meine Begleiterin mich zu.

„Dahin?“ mußte ich sie erstaunt fragen.

„Ja,“ war ihre kurze Antwort.

Es waren die ersten Worte, die wir, seitdem die Patrouille an uns vorübergekommen war, wieder mit einander gewechselt hatten.

„Ich darf Sie hinein führen?“ fragte ich sie weiter.

„Ich bitte Sie darum.“ Sie sprach die Worte in einem dringend bittenden Tone.

Einen Augenblick hatte ich, bei der Tanzmusik, doch wieder an ein ordinaires Abenteuer denken wollen; der bittende Ton nahm mir den Gedanken. Aber was wollte sie in dem Hause? in der Tanzkneipe?

Wir traten in das Haus; die Thür stand offen, und wir kamen in einen engen Hausflur. Eine trübe Oellampe, die oben an der Wand hing, zeigte, wie schmutzig es überall war, sie zeigte uns auch eine schmale, dunkle Treppe, die nach oben führte; wir stiegen sie hinauf und gelangten wieder in einen schmalen Flur, aber es war hell darin. Eine Seitenthür, die hineinführte, stand offen, man sah in eine Küche, in der ein großes Feuer brannte; es wurde darin gekocht, geschmort, gebraten. Angenehme Gerüche dufteten nicht daraus hervor, aber durch eine Thür gegenüber drangen entsetzliche Gerüche von Schnaps, von Bier, von Tabak. In die Gerüche mischten sich die Töne einer schlechten Musik, eines plumpen, polternden Tanzes, das Rufen von Tanzenden, das Schreien von Zechenden.

Was suchte die Fremde in diesem Hause? In dem hellen Scheine des Feuers stand ihre Gestalt doppelt schön, edel, stolz vor mir. Ihre Kleidung war eine elegante, aber tiefschwarz; man sah keinen weißen, keinen bunten Streifen. Und doch war es keine eigentliche Trauerkleidung. Das Gesicht war noch immer von dem schwarzen Schleier bedeckt.

Aus der Küche trat eine Frau in den Flur. Es war eine häßliche, dicke, schmutzige Alte.

„Sie sind doch noch gekommen?“ fragte sie meine Begleiterin.

„Ist das Zimmer für mich bereit?“ fragte diese zurück.

„Gewiß, Madame.“

„Es ist doch Niemand darin?“

„Kein Mensch.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_370.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)