Seite:Die Gartenlaube (1861) 340.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Gesichte gewichen, und ihr Blick ruhte wie in plötzlich erwachter Besorgniß auf ihm. Ebenso schnell aber ward der eigenthümliche Ausdruck durch ein weiches Lächeln verwischt.

„Ich glaube, Max,“ sagte sie, seine Hand drückend, „daß Dir einige Productionen mit uns Gelegenheit geben werden, Dich hier zu zeigen, Dich in der guten Gesellschaft einzuführen und einen Grund für eine solide Existenz für Dich, sei es auch nur erst als Musiklehrer, zu legen. St. Louis ist kein New York, es fehlt hier an Leuten, wie Du es bist, und weder unser Director, noch das herumziehende Leben kann Dir jemals einen Halt für Deine Zukunft geben.“

„Und welchen Halt bieten sie Dir, Mathilde?“

„O, mit mir ist es etwas Anderes – aber laß das jetzt!“ rief sie, sich rasch erhebend, als die Mittagsglocke durch das Haus klang, und fast schien es, als sei ihr die Unterbrechung eine erwünschte. Sie wandte sich nach dem Spiegel, sich mit wenigen Strichen ihr Haar ordnend, und trat dann auf den jungen Mann zu, ihre Hand mit einem: „Ich werde Dich führen!“ leicht unter seinen Arm schiebend.

Es lag für Reichardt etwas wunderbar Wohlthuendes in der zwanglosen Weise, mit welcher das Mädchen ihn behandelte, in dieser Mischung von zutraulicher Wärme und halber Zurückhaltung, – er fühlte sich neben ihr daheim, und wenn er auch wußte, daß keine Empfindung ihn bewegte, die der Liebe, wie er sie sich dachte, nahe stand, so fühlte er doch auch, daß er gern mit ihr durch das ganze Leben gegangen wäre. Als sie an seinem Arme die Treppe hinab nach dem Speisesaal schritt, meinte er in ihrer leichten, graziösen Bewegung, in dem hellen Blick, welchen sie zu ihm hob, nur die Verkörperung ihres ganzen inneren Wesens zu sehen.

An der Tafel war kein Platz für den neuen Gast reservirt, er mußte seine Begleiterin verlassen und sich mit einem Sitze am untern Ende des Tisches begnügen. Mathildens Platze gegenüber sah er den Agenten, dessen Auge nicht von ihm wich, bis er sich niedergelassen, und auch dann noch den aus der Entfernung gewechselten Blick der „Geschwister“ aufzufangen schien. Der junge Mann wandte, etwas verwundert, den Kopf nach ihm und traf auf einen stechenden Blick unter zwei buschigen zusammengezogenen Brauen, der sich indessen vor seinem Auge langsam senkte. Reichardt suchte, während er aß, umsonst nach einem Grunde dieses sonderbaren Begegnens, bis ihn die Stimme seines Nachbars andern Gedanken zuführte. „Sie gehören zu der angekommenen Gesellschaft, Sir?“ fragte dieser höflich.

„Nicht ganz, Sir,“ erwiderte der Deutsche, „ich bin nur heute zufällig mit Miß Heyer, die meine Schwester ist, hier zusammengetroffen.“

Der Andere neigte leicht den Kopf. „Die Zeitungen haben schon viel Rühmliches über die junge Dame berichtet, und die Gesellschaft wird ihre Rechnung hier finden – wir sind leider arm an tüchtigen musikalischen Kräften, und doch könnten so manche ein rentabeles Geschäft als Lehrer in unsern besten Familien, oder als Sänger und Sängerinnen in unsern Kirchen machen. Es scheint, daß Leute von solcher Befähigung nur immer als Zugvögel hierher kommen.“

„Well, Sir,“ erwiderte Reichardt und ließ erst jetzt den Blick über das ganze respectabele Aeußere des Sprechenden laufen, während sein Auge in einer neuen Hoffnung aufleuchtete, „Sie stellen mir selbst da eine lockende Aussicht. Ich hatte schon den Gedanken, hier ein Feld für mich zu suchen, und gedachte deshalb während der kommenden Vorstellungen einige meiner Leistungen dem Publicum vorzuführen –“

„Halten Sie den Gedanken fest, Sir,“ gab der Andere zurück. „Wenn Sie der Mann sind, für den ich Sie halte, so ist hier Ihr Boden, und ich werde mich freuen, Sie zum Hierbleiben aufgemuntert zu haben!“

Reichardt hätte gern das Gespräch noch weiter fortgesetzt, aber Mathilde schien bereits mit ihrem Mahle zu Ende zu sein und auf ihn zu warten. Er erhob sich, die Hoffnung gegen seinen Nachbar aussprechend, ihn am Abend wieder hier zu treffen, und wandte sich nach den obern Plätzen der Tafel, wo sich bei seinem Herankommen ein halbes Dutzend Köpfe nach ihm drehte.

„Es muß hier gleich eine General-Vorstellung bewerkstelligt werden, um Dir die Ehre einer Bekanntschaft mit unserm verdienten Künstler-Corps zu verschaffen,“ empfing ihn Mathilde, während sich die nächsten Personen von ihren Sitzen erhoben und der Ankömmling sich zwischen einem vollen Kreuzfeuer musternder Blicke sah. „Mein Bruder, Max Reichardt, Violinist und Pianist!“ Der Vorgestellte blickte mit einer leichten Verbeugung um sich und begegnete wieder dem unangenehmen Blicke des Agenten, um dessen Mund sich bei der Nennung von Reichardt’s Namen ein Zug scharfer Ironie legte. Es zuckte in dem Deutschen, ohne Weiteres Erklärung von dem Manne zu fordern. Ein Blick auf die zahlreichen Gäste umher ließ ihn indessen die Ausführung seiner Absicht aufschieben.

„Mr. Fonfride, unser würdiger Director,“ fuhr Mathilde fort, und der junge Mann sah ein echt französisches Gesicht, von grau gemischtem Haare beschattet, vor sich. Trotz dieses Zeichens beginnenden Alters aber schienen doch die lebendigen Züge und das feurige Auge kaum auf mehr als vierzig Jahre zu deuten. „Freue mich, Herr,“ sagte er in dem gebrochenen Deutsch, welches Reichardt bereits am Morgen vernommen, „ein Bruder, ganz einer solchen Schwester würdig. Ich beurtheile die Leute nach ihrem Geschmack, Herr,“ setzte er, Reichardt’s Aeußeres überlaufend, wie erklärend hinzu, „und bin noch selten fehlgegangen; der Geschmack muß da sein, sonst ist für mich wenigstens der ganze Mensch nicht viel!“

„Es hat wenigstens bei dem Bühnenkünstler Manches für sich!“ erwiderte Reichardt mit höflichem Lächeln und wandte sich dann nach den nächsten Personen, einem Manne in „gesetzten“ Jahren, mit einem Anfluge von Wohlbeleibtheit, dessen ganzer Gesichtsausdruck aber in „lyrische Süße und lächelndes Schmachten“ ausgegangen zu sein schien – und einer Dame, schon etwas verlebt, aber mit einer selbstbewußten Bestimmtheit im Blicke. „Herr und Frau Meier, unser Bariton und Alt!“ erklärte Mathilde, „und hier,“ fuhr sie fort, „Fräulein Faßner, Sopran, und die Herren Stiller und Meßner, Tenor und Baß.“ Reichardt erwiderte die Verbeugungen, es waren gewöhnliche Erscheinungen, auf die sein Auge zuletzt getroffen. Dann aber blieb sein Blick wieder auf dem Agenten hängen, den Mathilde in eigenthümlich kurzem Tone als „Mr. Stevens, our Agent,“ vorstellte. „Wir kennen uns bereits,“ sagte Reichardt englisch, den Blick fest auf das noch immer zu halber Satire verzogene Gesicht des Letztgenannten richtend, „und Mr. Stevens wird mir vielleicht erlauben, ein paar Fragen an ihn zu richten.“

„Zu irgend einer Zeit, Sir!“ war die Antwort, mit welcher der Redende sich wie im halb verdeckten Spott verbeugte.

„Sobald wir allein sein werden, Sir,“ gab Reichardt zurück und wandte sich, um Mathilden den Arm zu bieten.

„Wir sehen Sie doch heute bei der Vorstellung?“ nahm der Director das Wort, „Mademoiselle Heyer hat mir so viel von Ihrer Kunst auf der Violine gesagt, daß Sie uns jedenfalls einige Mal unterstützen müssen.“ Der junge Mann konnte nur lebhaft seine Bereitwilligkeit erklären und nach einer leichten Verbeugung gegen die Uebrigen geleitete er die „Schwester“ aus dem Saale.

„Liegt etwas zwischen Dir und dem Agenten?“ fragte Mathilde, als Beide zusammen die Treppe hinaufstiegen.

„Etwas jedenfalls, denn er scheint es auf eine Beleidigung gegen mich abgesehen zu haben,“ erwiderte Reichardt. „Was es aber ist, will ich eben von ihm erfahren. Ich habe den Mann heute Morgen zum ersten Male und da nur mit ein paar kurzen Worten gesprochen.“

Mathilde blieb an der Thür ihres Zimmers stehen. „Laß den Menschen, Max,“ sagte sie, „ich habe Gründe es zu wünschen, die Du bei der ersten Gelegenheit erfahren sollst. Er tritt übrigens schon morgen seine Weiterreise an, und so, wie ungehörig er sich auch gegen Dich benommen haben mag. laß ihn, mir zur Liebe!“

„Ich will ihn meiden, wenn Du es verlangst,“ erwiderte er, ohne das Gefühl von Befremdung, das ihn überkommen, ganz verbergen zu können.

„Thu’ es, Max,“ unterbrach sie ihn, ihre Hand an seinen Arm legend, „wir werden nicht von einander gehen, ohne daß Du klar in alle meine Verhältnisse geblickt hast – und nun,“ fuhr sie fort, als wolle sie damit den Gegenstand beseitigen, „laß Dein Gepäck hierhier schaffen, damit ich Dich in meiner Nähe weiß.“

Es waren mancherlei Betrachtungen, welche sich Reichardt beim Verlassen des Hotels über die Unklarheiten in Mathildens Lage aufdrängten, aber er hoffte sie bald ergründen zu können, und als er den Agenten, eine Cigarre rauchend, in der Ausgangsthür stehen sah, ging er an ihm vorüber, als bemerke er ihn nicht.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_340.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)