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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Der Geschmack muß da sein, Messieurs,“ klang eine ärgerliche Stimme in halb gebrochenem Deutsch, „das Singen mag sehr gut sein, aber der Geschmack in der Attitüde giebt erst den Effect. Nehmen Sie ein Vorbild an Mademoiselle Heyer und jetzt stellen Sie sich noch einmal auf!“ Ein Händeklatschen erfolgte, und mehrere Personen glitten über die Breter; gerade sich gegenüber aber sah Reichardt jetzt eine schlanke, weibliche Gestalt erscheinen; sie hob ein feines, bleiches Gesicht, und kaum hatte ihr Blick ihn getroffen, als es wie Morgenröthe in ihren Wangen aufschoß. „Max, Bruder Max, ist es denn wirklich so?“ rief sie und im nächsten Moment war sie auch schon in der Coulisse; Reichardt hatte unwillkürlich die Arme gehoben – er fühlte sie an seiner Brust, er fühlte ihren Mund so warm und innig auf dem seinen, als dürfe das gar nicht anders sein, trotz der Menschen um sie her, und als er die feine Gestalt in seinen Armen hielt, kam es über ihn wie ein stilles, klares Heimathsgefühl, als sei jetzt Alles gut und er habe kaum mehr zu sorgen um das, was künftig werden solle. In der nächsten Secunde stand sie vor ihm, Gesicht und Nacken roth übergossen, in halber Verwirrung, aber der ruhige, glückliche Ausdruck seines Gesichts schien ihr schnell ihre volle Controle zurückzugeben. „Welche Schicksale haben Dich denn getroffen, daß sich unsere Wege hier im fernen Westen kreuzen?“ frug sie, seine beiden Hände fest in die ihrigen nehmend.

„Die sind sich nur gefolgt, Mathilde,“ erwiderte Reichardt lächelnd, seinen Blick in ihr großes, dunkles Auge senkend, „ich komme direct von Nashville, wo ich die erste Spur meiner unsichtbar gewordenen Schwester fand und mich sofort aufmachte, um mir Aufklärung und Rechenschaft geben zu lassen.“ Wieder stieg ein Roth in ihre Wangen, und in ihrem Auge bebte es wie eine niedergehaltene Empfindung. „Das aber und so manches Andere besprechen wir nachher,“ fuhr er fort, „jetzt darf ich wohl nicht länger stören.“

Sie warf einen fragenden Blick nach der Bühne, auf welchen dort indessen schon gewartet zu sein schien. „Gehen Sie, Mademoiselle,“ sagte die frühere Stimme, „wir brauchen keine weitere Gesangprobe und ich will Sie nicht aufhalten, es handelt sich nur noch um die Attitüde dieser Messieurs; Sie wissen, der Geschmack muß da sein.“

Mathilde hieß, davon eilend, mit einem Händedruck den jungen Mann warten, und dieser zog sich nach der Treppe zurück, um nicht lästig zu werden; nach zwei Minuten aber schon war das Mädchen mit Hut und Mantille wieder zurück, und Beide betraten zusammen die Straße.

Sie gingen schweigend neben einander her, als fühle Jedes, daß sie mehr zu sprechen hätten, als sich auf der Straße abmachen ließ; dann und wann nur, wenn Reichardt den Kopf nach ihr wandte, hob sie den Blick, als sei sie glücklich, ihn einmal wieder in seinen Zügen ruhen lassen zu können.

Sie hatte den Weg nach dem „Everett House“ eingeschlagen und ging dort ihrem Begleiter rasch nach den Räumen des obern Stocks voran, wo sich ein kleines elegantes Zimmer, mit Divan und Schaukelstuhl versehen, vor ihnen öffnete. „Jetzt denke. Du bist bei Deiner Schwester, Max, und mache es Dir so bequem als möglich,“ sagte sie, mit voller Ungezwungenheit sich ihrer Umhüllungen entledigend; dann zog sie den Schaukelstuhl zur Seite des Divans und ließ sich leicht darin nieder. „Und willst Du nun freundlich sein,“ fuhr sie, nachdem Reichardt sich ihr gegenüber niedergelassen, mit voller Seele zu ihm aufblickend, fort, „so frage mich nicht viel, was mich von New-York weggetrieben und mein Schicksal von dem Deinigen trennen ließ. Du weißt, ich hätte mich in dem gewöhnlichen weiblichen Wirkungskreise einzeln stehender Frauen, zu dem die Noth mich doch zuletzt gedrängt hätte, aufgerieben, und so habe ich einen Beruf ergriffen, der mir wenigstens nach einer Seite hin volle Befriedigung giebt. Jetzt erzähle mir Deine Schicksale, und vor Allem, was es möglich machen konnte. Dich hierher zu verschlagen.“

Reichardt hatte beobachtend in ihr Gesicht geblickt, das wieder die ganze Blässe angenommen hatte, welche ihm bei ihrem ersten Erscheinen aufgefallen war, und hatte einen kaum momentan um ihren Mund zuckenden Ausdruck wahrgenommen, der weder mit ihrem leichten Tone noch mit der Befriedigung, von welcher sie gesprochen, im Zusammenklange stehen wollte.

„Frage jetzt einmal nicht nach meinen Erlebnissen. Ich müßte Dir eine lange Geschichte erzählen, zu der eine völlig ruhige Stunde gehört,“ sagte der junge Mann und legte seine Hand auf die ihre. „Ich möchte, daß Du Dich erst einmal gegen mich recht von Herzensgrund aussprächst. Ich will nichts wissen, als was die augenblickliche Gegenwart betrifft. Ich werde auch nicht fragen, und zufrieden sein mit dem, was Du mir mittheilst – aber sprich, damit ich einen Begriff von Deinem jetzigen Leben erhalte, Mathilde.“

„Ich habe nichts zu verheimlichen,“ erwiderte sie, während ein leises Roth wieder in ihr Gesicht stieg; „Du sollst Alles hören, und zuerst, daß es mich ein wahrer Festtag dünkt, Dich hier neben mir sitzen sehen. Meine Lage ist mit zwei Worten ausgedrückt: ich stehe allein, aber ich habe die Kraft dazu und erwartete kaum Anderes, als ich von Dir schied. Habe ich auch Kämpfe zu überwinden, die in meiner Stellung kaum zu vermeiden sind, so habe ich doch auch Genugthuung durch die Kunst in Fülle, und was kann ein Mensch zuletzt mehr verlangen?“

„Und doch bist Du nicht glücklich, Mathilde!“

„Glücklich! du lieber Himmel, wie viel wirklich Glückliche giebt’s denn in der Welt, und welche Ansprüche habe ich denn, zu diesen Wenigen zu gehören?“ rief sie lachend; aber es war keine Freude in diesem Lachen, und in Reichardt’s Seele klang es wie ein Mißton. „Ich habe glückliche Augenblicke, Max,“ fuhr sie fort, „wenn ich den Gott in meiner Brust fühle, wenn die Menschenmenge vor mir, die nüchterne, träge Masse, von ihm ergriffen wird und im Enthusiasmus losspectakelt, wenn ein Wettkampf entsteht zwischen den rohen Aeußerungen dieser Begeisterung und den klingenden Tönen, die ich kaum mehr als die meinigen erkenne, und plötzlich, wie niedergeworfen von der Macht des Gottes, jeder Ton um mich her verstummt, daß ich fast erschrecke vor den siegenden Klängen der eigenen Brust – das sind Augenblicke des Glücks, Max, die ich festhalte, wenn die Oede des übrigen Lebens wieder an mich heran tritt, und hat denn der Mensch ein Recht, mehr zu verlangen?“

„Ich mag Dich nicht zu Mittheilungen drängen, die Du mir nicht ungefragt machen willst,“ erwiderte Reichardt, den Blick von ihrem eigenthümlich leuchtenden Gesichte sinken lassend, „die Augenblicke der Aufregung sind doch am wenigsten das wirkliche Leben, und von den Stunden der nachfolgenden Ermattung sprichst Du auch nicht.“

„Du sollst Alles durchblicken,“ erwiderte sie, seine Hand zwischen die beiden ihren nehmend, „aber warte, bis Du den Boden kennst, auf dem ich stehe, und die Menschen um mich beurtheilt hast, bis Du gesehen, wie ich mich zu ihnen und den Verhältnissen stelle. Vielleicht erscheine ich Dir dann fremder, als ich es Dir jemals gewesen – dann aber wird es Zeit sein, mehr zu sprechen. Du begleitest mich heute Abend hinter die Coulissen. Und nun eine Frage, die Du mir trotz der angedrohten Geschichte doch beantworten mußt: führt Dich ein bestimmter Zweck hierher, oder bist Du auf einer Irrfahrt begriffen?“

„Auf einer wirklichen Irrfahrt, Mathilde, die sich aber mit wenigen Worten eben nicht erklären läßt!“

„Es bedarf auch jetzt nicht der Erklärung. Für’s Erste nimmst Du Dein „Dinner“ mit mir – wir werden keine zwei Minuten darauf zu warten haben, und Nachmittags quartierst Du Dich hier ein, damit wir bei einander sind. – „Halt, einen Moment,“ unterbrach sie Reichardt, einen Blick durch das Fenster werfend, „ich thue Alles, was Du willst, aber hier logiren kann ich nicht. Ich weiß noch nicht, ob ich einen Cent werde in St. Louis verdienen können, und dies Haus ist mir zu kostspielig –“

„Gut!“ erwiderte sie mit einem glücklichen Lächeln, „ich werde auch für den Verdienst sorgen, wenigstens augenblicklich – oder meinst Du, wir sollen von einander gehen, ohne einmal wieder

„Zieh’n die lieben gold’nen Sterne“

zusammen durchphantasirt zu haben? und Monsieur Fonfride, der Director, wird einen Künstler, wie Dich, der ihm wie vom Himmel herab zufällt, unausgebeutet lassen, so lange wir hier sind?“

„So lange wir hier sind!“ klang es wie ein Echo in Reichardt’s Innern; sie dachte also nicht daran, daß er sich vielleicht der Truppe anschließen dürfe, wie es als halbe Hoffnung ihm zu Zeiten vorgeschwebt. Er sah einige Secunden lang schweigend vor sich nieder. „Und wenn nun mein Spiel gefiele, Mathilde? – ich habe so manches Effectstück eingeübt, das die Amerikaner ansprechen würde,“ begann er langsam, „glaubst Du nicht, daß es in Eures Directors Nutzen liegen würde, mich auch weiter zu beschäftigen?“

Als er aufsah, war das leise Roth der Erregung aus ihrem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_339.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)