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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Allerdings ging der Impuls und die Idee zu solchen Gesetzen nicht immer vom Kaiser selber aus. Sie wurden ihm oft schon fertig von seinen Ministern vorgelegt, und er hatte sie nur durchzugehen und zu bestätigen. Allein schon dies war eine sehr mühevolle Arbeit. Und daß der Kaiser Nikolaus diese Arbeit in der Regel wirklich über sich nahm, geht daraus hervor, daß am Rande vieler Ukase sich seine eigenhändigen Bemerkungen und Rothstift-Correcturen befinden.

Wie die ganze Gesetzgebung, so ruhten auch alle Geschäfte der Regierung und Verwaltung in seinen Händen. Er bedurfte dazu einer Menge von Gehülfen: Minister, Generalgouverneure, Gouverneure, Hofbeamte, Gesandte und unzählige andere Beamte, deren Posten unmittelbar durch ihn besetzt wurden, und zu denen er sich bald dieses, bald jenes Individuum ausersah. Man hörte oft in Petersburg Aeußerungen wie diese: „Auf diesen Mann hat der Kaiser ein Auge geworfen, er hat ihn längst im Stillen zu seinem Minister des Innern bestimmt.“ – Zuweilen versicherte man: „Jenen Mann zieht sich der Kaiser zu seinem zukünftigen Kriegsminister heran.“ – Solche zu hohen Posten im voraus designirte Männer fand man dort immer mehrere. Wenn man gerade nicht des Kaisers Namen nennen wollte, so sagte man dann von solchen Personen: „Der wird noch einmal hoch gehen. Er ist zu großen Dingen bestimmt.“ Ja, der Kaiser Nikolaus sprach selbst oft zu solchen Leuten folgendermaßen: „Peter Alexejewitsch, ich glaube, Du wirst rasch avanciren, Du wirst, wie mir es scheint, noch einmal eine bedeutende Carriere machen,“ – indem es dabei den Anschein hatte, als wolle er selber zur Beförderung dieser Carriere nichts beitragen, als steige vielmehr jener Mann durch eigenes Verdienst. Oft hatte er schon ganz junge Leute, die ihm besonders tüchtig erschienen, im Kopfe und machte sich einen Lebensplan oder eine Carriere für sie. Er ließ sie dann durch eine Art von Schule gehen, um sie zu diesem oder jenem hohen Posten, den er für sie reservirte, zu befähigen. Er ließ sie von unten auf dienen, ließ sie, wenn sie sich gelegentlich im polnischen oder kaukasischen Kriege oder auf der Parade auszeichneten, zu Obersten und Generalen avanciren, führte sie dann, wenn sie z. B. Minister des Innern oder des Unterrichts werden sollten, zum Civildienst über, machte sie zu Gehülfen oder Adjuncten in dem einen oder andern Ministerium, und schickte sie dann „mit außerordentlichen Aufträgen“ in verschiedene Provinzen des Reichs, damit er erfahre, „quid valeant humeri“.

Bewährten sie sich, so übertrug er ihnen dann wohl auf ein oder zwei Jahre die Verwaltung eines Gouvernements oder eines Generalgouvernements, bald in diesem, bald in jenem Theile des Reichs, damit sie das ganze Land in seinen Theilen kennen lernten und sich zu ihrem Posten befähigten. – Darauf stellte er einen solchen Mann dem bisherigen Minister als Viceminister zur Seite und nach einiger Zeit schrieb er an diesen einen Brief: „Mein lieber Dimitri P…witsch. Da die lange Reihe von Jahren, die Ihr mir dient, eine Ruhe heischt, die Ihr Euch schon lange wünscht, so – seid Ihr hiermit in Gnaden entlassen etc. etc.“ – und der neue nun fertige Minister trat an des Verabschiedeten Stelle. –

Suchte der Kaiser einen Erzieher für einen seiner Prinzen, so sagte er Niemandem etwas davon, wen er wohl wählen dürfte, auch fragte Niemand darnach. „Ne iswestno!“ (Es ist noch nicht bekannt) hieß es in Petersburg. Es lag noch ein tiefes Geheimniß darüber. Im Herzen des Kaisers hatte aber vielleicht bereits schon ein Funke Feuer gefangen. Er kannte längst einen Officier in seiner Umgebung, den er redlich und pünktlich seine Pflicht erfüllen sah. Diesem gab er dann zu Zeiten einige bedeutungsvolle Winke, indem er ihn mit kurzen Worten lobte und encouragirte: „Gut gemacht, Capitain!“ – „Bravo!“ –„Ich bin zufrieden!“ – „Fahre so fort, und Du wirst höher steigen!“

Wenn der Kaiser seine Beobachtungen und Einleitungen beendigt hatte, ging es dann oft sehr rasch. Plötzlich wurde der Capitain zum Obersten oder General avancirt und nicht lange nachher zum Leidwesen aller älteren Officiere zum Prinzen-Erzieher berufen. Der Mann erschrak selbst darüber und erklärte offenherzig, daß er zu einem so wichtigen Amte gar nicht die Kräfte in sich fühle. „Ich kenne Dich besser,“ antwortete der Kaiser. „Ich weiß, Du bist tauglich. Ueberlaß Dich mir.“

Nicht nur seine Minister und hohen Reichsbeamten, sondern auch alle, selbst die niedrigsten Officiersgrade in seiner Armee empfingen unmittelbar vom Kaiser ihre Bestallung und Beförderung. Bei uns drehen sich vielfache secundäre und tertiäre Gewalten zwischen der im Mittelpunkte stehenden Sonne und den niederen Beamtengraden. In Rußland fallen die Strahlen jener Sonne überall viel directer in die Behausung selbst der kleinsten Beamten. Daher rühmen sich denn auch dort alle immer einer besonderen Freundschaft mit dem Urquell aller Gewalt, als ob sie in ganz naher Vertraulichkeit mit dem Kaiser ständen. Der Schulmeister einer entlegenen Gouvernementsstadt sogar spricht, sich brüstend und sehr selbstgefällig: „Der Kaiser hat die Gnade gehabt, meinen Sohn zum Major zu machen,“ – als hätte der Kaiser es blos aus besonderer Dienstfertigkeit für ihn, den alten Papaschulmeister, gethan.

Sogar die Hofsänger seiner Capelle erwählte der Kaiser Nikolaus nicht selten selbst. Die beständige Selbstthätigkeit der russischen Autokraten bewirkt es, daß Andere um so lasser sind, und daß sich ihnen nichts von selbst darbietet. Wer weiß, wie viele hundert Male schon der erste Bassist der kaiserlichen Hofcapelle, als er noch gemeiner Uhlan war, seinem Officier mit einer erschütternden Baßstimme sein „Hurrah“ zugerufen haben mochte, ohne daß es deswegen diesem Officiere eingefallen wäre, ihn für etwas Anderes als für die Pike tauglich zu halten. Der Kaiser Nikolaus mußte ihn erst selbst eines Tages in dem Garten von Zarskoje-Selo auffinden und ihn fragen: „Sdarów, Ulan?“, (Bist Du wohl, Uhlan?) und dieser ihm mit tiefer, volltönender und ergreifender Baßstimme zurückdonnern: „Sdarów, Wasche Welitschestwo“ (Wohl, Eure Majestät). Der Kaiser mußte erst selbst von diesem tiefen Basse frappirt werden, den Mann des Soldatendienstes entheben, ihn in die Musikschule schicken und sich den besten Bassisten seiner Capelle aus ihm bilden.

Man erwäge, sage ich, diese Facta, denke sich tausend ähnliche Facta, und stelle sich nun vor, welche außerordentliche Geschäftigkeit und unaufhörliche Spannung und Anstrengung ein solches Verfolgen aller Carrieren, ein solches Beobachten aller Beamten und Unterthanen, ihrer Anlagen, ihrer Tauglichkeit etc. voraussetzt. Der russische Kaiser mußte jeden seiner Diener suchen, während sich andern Königen, z. B. der Majestät von England, fast jeder Minister und Diener aufdrängt, oft selbst freilich ganz wider ihren Willen aufdrängt.

So wie der Kaiser seine Diener sich gewissermaßen alle selbst erzog und schulte und sie, so zu sagen, jeden Schritt auf ihrer Carriere an seiner eigenen Hand oder an seinem Gängelbande machen ließ, so controlirte er sie auch später noch, wenn sie an ihrem Posten standen, mit eigenen Augen. Neben der officiellen geheimen Polizei, die sein dazu bestelltes Polizeiministerium ausübte, leitete der Kaiser auch noch in eigener Person ein System geheimer Polizei, von der er selbst das Haupt oder der Mittelpunkt war. Er fuhr nicht nur, wie ich schon erwähnte, inspicirend und beobachtend in seiner Residenz herum, um nachzusehen, ob die Trottoirs rein gehalten wären, ob die Leute auf den Straßen nach Vorschrift gekleidet wären, ob auch Jemand gegen den Ukas auf dem Admiralitätsthurme stände, ob die Schildwachen nicht an ihrem Posten schliefen, – sondern er sandte auch oft aus seiner Privatkanzlei außerordentliche Emissäre in verschiedene Theile des Reichs aus, damit sie ihm über dieses oder jenes Individuum einen Augenzeugenbericht abstatten möchten. So gab es denn erstlich die gewöhnliche ordinäre Polizei, dann die extraordinäre Geheimpolizei, und endlich noch, um diese zu controliren, des Kaisers ganz versteckte Privat- und Cabinet-Polizei.

Unsere Könige geben als Regenten und Gesetzgeber nur die großen Impulse und verlassen sich darauf, daß diese Impulse dann, von anderen Zwischengewalten getragen, im Detail von selbst weiter wirken. Kaiser Nikolaus mußte nicht nur die großen Impulse geben, sondern auch noch bei jedem einzelnen Rädchen der Maschinerie selbst nachsehen, ob es seine Pflicht thue. Er war wie ein Anführer, der in jeder Schlacht die Pflichten eines Feldherrn und Taktikers mit denen eines Unterofficiers und einer Schildwache vereinigen soll. Es war mit dem Kaiser Nikolaus noch fast ebenso, wie zur Zeit Peter’s des Großen, der nicht nur selbst die Führung der Axt, des Bohrers und Hobels erlernte, sondern auch in Person den Richter und Bestrafer der Verbrecher spielte. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_330.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)