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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

und alles Elends moderner Civilisation hat uns doppelt gestraft. Wir haßten London gründlich, so lange es uns festhielt, ohne uns die Heimath zu ersetzen, und lieben es nun wie eine verkannte, verlorene Geliebte, nachdem uns die alte Heimath in Gnaden als Fremde aufgenommen.

Doch Geduld! Das eingeborene Heimathsrecht wird wieder aufleben und sich geltend machen, namentlich wenn wir endlich die alte Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ sich anständig beantworten sehen.

Ein schöner, schmerzlicher Abend, der letzte in meinem Hause zu London, sagte ich. Freund Kinkel kam über die große Kiste auf dem Hausflure gestiegen und setzte sich zum letzten Male um den runden Tisch, den Abend zu verplaudern, über tausenderlei Sorgen und Fragen und Befürchtungen mit klarem Blick und seiner anmuthigen Herzlichkeit hinweg zu helfen, über seine eigene ungelöste Verbannung sich und uns zu trösten und endlich mit dem Vortrag einer Dichtung zu schließen. Wer Kinkel je reden oder vortragen hörte, sei’s der bitterste Feind, wird sich unbedingt vor ihm beugen. Solche Vereinigung angeborener, natürlicher Vorzüge mit der höchsten Ausbildung oratorischer Kunst wird sich selten wieder so harmonisch und edel zusammenfinden. Der deutsche Dichter und Redemeister ist uns verloren. Kinkel ist zum gefeierten Redner und Lehrer in englischer Sprache geworden und ward von der englischen Regierung auf die ehrenvollste Rednerbühne gerufen, just als durch alle deutschen Zeitungen in trockenster Aufzählung und im Nachdruck aus einer in die andere wie eine Tagesneuigkeit gemeldet ward, daß Die und Die zu den Amnestirten gehörten, Kinkel aber ausgeschlossen sei. Klinger, Seume, Forster, Kleist, Kinkel – lauter Namen in der deutschen Literatur, die nicht sterben werden; aber Die, welche ihnen den deutschen Boden entzogen, die Gewalten, die sie zu Feinden des Vaterlandes stempelten, werden keinen unparteiischen Historiker vermögen, ihnen solche Ehrenplätze in der vaterländischen Geschichte einzuräumen. Erstere sind längst als wahre Patrioten erkannt und anerkannt worden, und die Geschichte hat wenigstens bereits zum Theil den Beweis mit Blut geschrieben, daß Die, welche sie verbannten, es nicht waren. Weitere Beweise ist sie, fürcht’ ich, eben im Begriff zu liefern.

Wir schieden spät in der Nacht. Die Stunden, die wir zuletzt mit einander genossen, gehören zu den geweihten und ewigen in unserer Erinnerung.

Und wie so manche Beweise der Liebe und Freundschaft häuften sich noch auf unsere Abschiedstage in dem kalten, verhaßten London! Dem von dem glühenden, enthusiastischen Redacteur und Freunde Juch vorbereiteten Festessen und Ehrenandenken, dessen collectivischer Charakter mich schon als Aussicht in Verlegenheit setzte, entging ich nur durch Kürze und Kostbarkeit der Zeit und die ungeheueren räumlichen Ausdehnungen Londons. Für die Kinder stellten sich allerhand Bücher, Bänder, Spielzeuge und dergl. als Andenken ein, und als wir am 18. März früh vor der andrängenden Auction aus dem Hause flohen, wurde meine Tochter auf dem Wege durch unsere Straße von Apfelsinen, Kuchen, seidenen und sonst niedlichen letzten Liebeszeichen und „Keepsakes“, zum Theil aus mir ganz unbekannten englischen Häusern, wahrhaft bepackt. Hübsche, liebe, rothbäckige Kinder eilten herbei und drückten ihre unschuldigen Lippen auf die der kleinen deutschen Freundin, die ihnen in unermüdlicher Plauderhaftigkeit und Erfindungsgabe bei Spielen so lieb und als ein oft verschriebenes und abgeholtes Mittel gegen Langeweile fast unentbehrlich geworden war. Eltern und Angehörige der Kinder, mir zum Theil wildfremd geblieben, nickten aus den Fenstern. Wir waren Jahre lang vor einander vorbei gegangen, ohne uns nur anzusehen. Das hätte sich damals nicht geschickt. Jetzt war „Abschied“ und keine Zeit zu verlieren. Da galt’s denn zu zeigen, daß wir gute, getreue Nachbarn gewesen, daß man ein Herz im Leibe habe für die heimkehrende deutsche Familie. Ich glaube, so sind wir Menschen auch sonst vielfach gegen einander; man verschiebt und vernachlässigt tausenderlei gute Gedanken und Regungen des Herzens, weil es im gemeinen Laufe der Lebensstunden als zu schwärmerisch oder ungewöhnlich uns genirt oder man Andere damit zu incommodiren fürchtet, weil man denkfaul, gefühlsträge, etikettenängstlich über Art, Ort und Zeit nicht in’s Klare kommen will, weil es ja ohnehin „noch Zeit habe“. Und wenn wir dann endlich – den Meisten zu frühzeitig – den letzten Abschied überhaupt nehmen, fallen uns gewiß allerlei dumme Dinge ein, die wir hätten vermeiden, allerhand gute, die wir füglich hätten thun sollen. Und dann will man noch herzlich sein, wenn das Herz nicht mehr schlagen will, und läßt vielleicht sogar arge, alte Feinde bitten, daß sie uns durch Versöhnung das Sterben erleichtern und uns nicht hindern mögen, das Auge ruhiger zum letzten Schlummer zu schließen.

Da kam uns auf unserm letzten Wege aus unserm Hause die liebe M. M., die freundliche, englische, junge Dame entgegen, um uns die Kinder, die uns etwa bei dem Wirrwarr der Auction im Wege sein könnten, einstweilen zu sich zu nehmen. Sie war zu diesem Zwecke weit her mit der Eisenbahn gekommen, dieselbe die den Abend vorher meinem blühenden Jungen halb gewaltsam den dicksten, wärmsten Ueberzieher für die Seereise angezogen hatte, so daß er nach Hause kam dick wie ein Bürgermeister. Wir hatten uns während der zehn Jahre in London wohl kaum zehn Mal gesehen. Man sieht sich in London überhaupt selten. Mitten unter den drei Millionen Menschen sieht man selten Menschen, aus demselben Grunde, wie der Köhler mitten im Walde denselben vor Bäumen nicht sehen kann. Ja, die Kunst des Sehens ist schwer, am schwersten unter lauter Sehenswürdigkeiten, an welchen die Welt im Allgemeinen fast ebenso reich ist, wie – London.

Wie wir uns dieses verhaßte Riesenwunder, vor dessen unaufhörlich geschüttelten Kaleidoskopen wir oft absichtlich die Augen geschlossen, zum letzten Male ansahen, was hatten wir Alles nicht erblickt oder übersehen! Es hatte ja immer noch Zeit, oder es fehlte uns daran. Nun war es für tausenderlei aufgeschobene Pflichten oder Wünsche zu spät. Selbst viele befreundete Seelen, die vor uns aus einem zehnjährigen Leben und Leiden, Tumult und Taumel auftauchten, mußten ohne Abschiedsgruß zurückgelassen werden. Die neue Welt drüben in der alten griff mächtig in unser Herz und zog uns gewaltsam los und trieb uns umher, allerlei hübsche Sachen aufzugabeln, um neue Freunde und Verwandte, die wir zum ersten Male sehen sollten, kinderreiche Familienmütter, die wir zuletzt in kurzen Röckchen und Kinderlocken gesehen, unbekannte Schwager und Schwägerinnen, ganz funkelnagelneue Tanten und Onkels, nur aus Briefen bekannte, fabelhafte Neffen und Nichten, grau, weiß oder kahl oder dick und fett gewordene Jugendfreunde damit zu beschenken. Kränze und Blumen für die Gräber Derer, die wir in Glück und Gesundheit verlassen hatten, kauften wir erst in dem lieben Deutschland, wo Alles billiger sein sollte, was wir aber durchaus nicht fanden. – Ich will hier nicht sagen, was Alles hier theurer oder gar nicht zu haben ist.

Wir fuhren spät Abends durch beinahe die halbe Ausdehnung Londons hinunter in die Tower-Gegend, in dessen Nähe die Dampfer für den Continent liegen, und sahen noch einmal – jetzt wieder mit geöffneten Augen, wie beim ersten Anblick – in das Gewühl und Gewirre von Menschen, Wagen, Pferden und Lichtern, Straßen und Läden, Verkäufern und Käufern, Betrunkenen und Nüchternen, Jubelnden und Weinenden, Hungrigen und Übersättigten, Lumpen und Juwelen – in diese riesige, alltägliche, allnächtliche Zauberei der Freiheit, der souverainsten Anarchie von drei Millionen Menschen, von denen gesetzlich keiner verhungern darf, da sich Jeder nähren kann und soll, wie er eben Lust hat. Außerdem soll sich auch Niemand ersäufen oder sonst selbst das Leben nehmen. Wenigstens lesen die Herren auf dem Richterstuhle jedem Unglücklichen die Moral, der wegen versuchten, aber nicht vollendeten Selbstmords vor sie gestellt wird; gelingt aber das Ersäufen, Hängen oder Vergiften, so hat das Gesetz nichts weiter dagegen. Allerdings giebt’s auch viele Policemen, aber diese sind im Ganzen froh, wenn man ihnen nichts thut, und machen sich gern da unsichtbar, wo Gesetze, Köpfe und Knochen gebrochen werden. Außerdem schaffen sie die Betrunkenen bei Seite, wenn sie im Wege liegen und nicht mehr gehen können. Auch nehmen sie ertappte Spitzbuben geschickt am Arme und schieben sie mit classischer Geschicklichkeit und Anmuth immer einen halben Schritt vor sich her. In allem Uebrigen aber stören sie nicht. Drei Millionen Menschen dicht beisammen in solcher Freiheit des Denkens, Thuns, Sprechens, Schreibens, Handelns, Erwerbens und Verderbens – diese großartige Harmonie und Vollkommenheit, mit der sich alle Folgen und Früchte der Freiheit, mit allen ihren Auswüchsen, ausgewuchert haben und mit zunehmender Geschwindigkeit immer gewaltiger ausbreiten – das ist unter der Oberfläche der eigentliche Reiz und Zauber, womit das „Herz der Welt“ Jeden ergreift und abstößt und immer wieder fesselt, sobald man

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_327.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)