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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Der Deutsche schnitt mit einer Verbeugung die weitern Worte ab und wandte sich in gedrückter Stimmung nach dem Hotel. Er sah im Geiste alle die Männer, welche ihn so lebhaft ihrer Freundschaft und Unterstützung versichert, in ähnlicher Weise von sich abfallen. Er hatte mit seinem bedachtlosen Wohlwollen für Bob augenscheinlich ein Verbrechen begangen, das ihn von jeder ferneren Theilnahme ausschloß, und der Wirth hatte mit seinen Ansichten der Dinge nur zu sehr Recht gehabt. Demohngeachtet sollte ihm jetzt Niemand seine Entmuthigung anmerken; er wollte, sobald er nur Harriet noch einmal gesehen, die Stadt verlassen, aber offen und ungezwungen.

Mit aufgerichtetem Kopfe betrat er das Hotel, in welchem soeben die Mittagsglocke geläutet hatte, und wandte sich nach dem Speisezimmer. Sein Eintritt schien hier eine Art Aufsehen zu erregen. Die noch eben von einzelnen Gästen lebhaft geführten Gespräche flockten plötzlich, während sich von allen Seiten die Blicke mit einem Ausdrucke von Verwunderung oder Neugierde nach ihm kehrten. Reichardt konnte sich einer leichten Befangenheit nicht erwehren, nahm indessen ruhig seinen Platz ein und übersah es absichtlich, daß die ihm zunächst Sitzenden die Köpfe von ihm wandten und mit ihren Nachbarn eifrig zischelten. Hier hatte also die Angelegenheit schon zu arbeiten begonnen, und es konnte nun kaum fehlen, daß nach wenigen Stunden die ganze Stadt davon voll war. Es ward dem Deutschen bald peinlich, der ersichtliche Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Ohne Hast, aber in möglichster Kürze beendete er sein Mahl und schritt dann nach der Vorhalle hinaus. Dort stand der Wirth im Gespräche mit dem Buchhalter. Kaum aber hatte der Erstere im Umdrehen Reichardt’s Gesicht erblickt, als er auch, wie um jeder Begegnung mit dem Deutschen auszuweichen, sich nach dem Innern des Hauses wandte, während der zurückgebliebene Buchhalter einen unzufriedenen Blick nach dem Gaste warf und in der „Office“ verschwand. Reichardt neigte den Kopf und verließ das Haus – er gestand sich, daß es bald hohe Zeit für ihn sein werde, dem Orte den Rücken zu kehren.

Planlos schlug er die nächste Straße ein, welche aus der Stadt führte; er wollte nicht eher zurückkehren, als bis er Harriet oder wenigstens deren Vater gesprochen – aber es war bereits zehn Uhr Abends, als er erst durch die Dunkelheit seinen Weg zurück suchte, ohne dennoch zu seinem Ziele gelangt zu sein. Ein eigenthümliches Unglück schien ihn verfolgt zu haben. Er hatte, um ein paar Stunden zu tödten, seine Richtung über die nächste Höhe nach einem geschonten Waldstücke genommen und sich hier zum Schlafen niedergelegt. Aber erst bei Einbruch der Dämmerung war er aus allerhand verworrenen Träumen erwacht.

Eilig hatte er jetzt Burton’s Haus aufgesucht, aber nur wiederholt den Bescheid erhalten, daß die Herrschaft noch nicht zurück sei. Als er sich jetzt, die Straßen der Stadt meidend, langsam wieder entfernt, erinnerte er sich plötzlich, daß ihm Burton versprochen, heute wegen seiner Anstellung mit Young zu reden. War durch diesen dem alten Herrn vielleicht zu Ohren gebracht worden, was gegen den Deutschen vorlag, und die Fahrt in’s Land nur angeordnet, um seinem Besuche aus dem Wege zu gehen? Die Annahme erschien nach den Erfahrungen des Tages vollkommen logisch. Welches besondere Interesse hatte Burton an ihm zu nehmen? und mußte nicht die Angelegenheit ganz gelegen kommen, um auf die kürzeste Weise dem Zwiespalte in der Kirchengemeinde vorzubeugen? Zum ersten Male seit dem Morgen fühlte Reichardt ein Gefühl herber Bitterkeit in seiner Seele aufsteigen, das sich erst bei dem Gedanken an Harriet sänftigte. An sie glaubte er, von ihrer Abwesenheit wußte er, daß sie absichtslos war, und sie wollte er auch nur noch allein aufsuchen.

Reichardt war mit seinen Gedanken beschäftigt fortgewandert, bis er sich auf einer von Feldeinzäunungen begrenzten Straße fand, deren Richtung in’s offene Land zu führen schien. Er blieb einige Secunden stehen, um sich möglichst zu orientiren, wanderte dann zurück und schlug die erste Straße, welche seinen bisherigen Weg durchkreuzte und sich nach der Stadt zu wenden schien, ein. Bald aber endete diese an dem geschlossenen Gitterthore einer Baumwollenpflanzung, und der Verirrte, wollte er nicht noch einmal umkehren, konnte nichts thun, als die Einzäunung übersteigen und in der verfolgten Richtung das Feld überschreiten. Neun andere Einzäunungen zählte er, welche er auf seinem mühseligen Wege zu passiren hatte, bis er endlich wieder freien Grasboden unter sich fühlte. Die Nacht war längst hereingebrochen, und von der Stadt konnte er keine Spur entdecken. Trotzdem glaubte er in der Richtung nicht fehlen zu können. Er schritt so rasch vorwärts, als es sich auf dem unebenen Boden mit einiger Sicherheit thun ließ, und erblickte nach Kurzem die Chaussee, hell aus dem Dunkel sich heraushebend, vor sich. Jetzt konnte er zwar nicht mehr fehlen, aber die Strecke, welche er zurückzulegen hatte, ehe ihm die Lichter der Stadt entgegenblinkten, zeigte ihm, wie weit ab ihn sein Weg geführt.

Als er sich dem Hotel näherte, fiel ihm ein eigenthümliches Leben in der nächsten Umgebung desselben auf. Kleine Trupps von Menschen standen zerstreut an den Häusern umher, und wo das Licht der Verkaufsläden auf einzelne derselben fiel, ließen sich Gestalten erkennen[WS 1], deren unsaubere Bekleidung und verwilderte Gesichter am wenigsten in die reiche, elegante Landstadt zu gehören schienen. Ein Trinklocal in der Nachbarschaft war mit Menschen ähnlicher Art gefüllt. Demohngeachtet ließ sich nirgends ein überlautes Wort hören, und nur eine Art Summen verrieth dem Entfernteren den lebhaften gegenseitigen Wortaustausch. Reichardt war indessen nicht in der Stimmung, Beobachtungen über Menschen und Sitten anzustellen. Er ging rasch nach der Hotelthür, die er zu seiner Verwunderung geschlossen fand, und die erst nach scharfem Klopfen seinerseits von einem der Schwarzen vorsichtig geöffnet wurde. Ohne sich aber mit Fragen über die Ursache der ungewohnten Maßregeln aufzuhalten, eilte er nach seinem Zimmer hinauf, um, ehe er Harriet noch einmal aufsuche, mit sich selbst über seine Lage in’s Klare zu kommen.

Er hatte soeben Licht angezündet und seinen Hut abgelegt, als die Thür hastig geöffnet wurde und der Wirth mit verstörtem Gesichte eintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, löschte er das Licht und faßte den Arm des Deutschen. „Sie dürfen keine Minute hier bleiben, Sir, wenn Sie sich nicht dem Aergsten aussetzen wollen,“ sagte er in hörbarer Aufregung. „Ihr Eintritt in’s Haus ist bemerkt worden – ich habe Sie heute früh gewarnt, und nun ist das Unglück da!“

„Aber was giebt es denn? – von welchem Unglück sprechen Sie denn?“ rief Reichardt, dem es wohl wie eine böse Ahnung durch die Glieder gefahren war, dem aber dennoch jede Vorstellung von d[e]m, was ihm drohen könne, fehlte.

„Was es giebt, Sir?“ erwiderte der Hotelbesitzer in steigender Erregung, „daß Sie aus dem Hause geschleppt, getheert und gefedert und sodann aus der Stadt gepeitscht werden; das giebt es, Sir! Ein sogenanntes Comité der Bürger war heute Nachmittag zweimal hier, um Sie aufzufordern, unverzüglich den Ort zu verlassen. Ich wurde selbst in’s Verhör genommen und mußte ihnen der Wahrheit gemäß sagen, daß Sie sich nicht wollten wie ein Verbrecher hinwegtreiben lassen. Jetzt sind die Executionsmannschaften, das verwilderte Volk, das auf kleinen Plätzen zwischen unsern Plantagen lebt und dessen höchste Lust ein Mob ist, hereingekommen – ich muß das Haus durchsuchen lassen, wenn ich mir nicht eine Demolirung gefallen lassen will, und Sie –“

Ein hundertstimmiger, brüllender Schrei auf der Straße verschlang die übrigen Worte. Zugleich aber drang zu den Fenstern eine rothe Helle herein, mit jeder Secunde an Glanz zunehmend.

„Da sind schon die Fackeln – jetzt fort, um Gotteswillen! Jeder Athemzug Zögerung ist eine Lebensgefahr!“ rief der Besitzer, und Reichardt, verwirrt, von Schrecken vor dem Unbekannten überkommen, flog an seiner Seite die Treppe hinab nach dem hintern Theil des Hauses. Von der Vorderthür tönte ihnen Schlag auf Schlag nach. Mit fliegender Hand öffnete der Wirth eine kleine Hinterthür, welche in eine schmale, durch zwei hohe Breterwände gebildete Gasse führte. „Jetzt gebe Gott, daß der Ausgang hier noch frei ist,“ flüsterte er, „laufen Sie wie für Ihr Leben!“

Reichardt, der Angst des Augenblicks folgend, war wie ein Pfeil die Gasse hinabgeflogen. Schon sah er das Ende – da schlug plötzlich Fackelschein vor ihm auf – er schnellte um die Ecke in die sich aufthuende breite Straße. Aber in einem wahren Teufelsjubel klang es hinter ihm: „Da ist er! da ist er!“ und zugleich hörte er die zu raschem Laufe sich verwandelnden Schritte seiner Verfolger.

Der Flüchtling war mit einer Schnelle, wie sie nur die höchste Noth verleihen kann, davon geeilt, ohne sich von der eingeschlagenen Richtung Rechenschaft zu geben, aber die ihm Nachsetzenden schienen zähe an seinen Fersen zu hängen – fort und fort hörte

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erkennnen
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_319.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)