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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Seewasser geschwängert war. Die Bewohner dieser Stadttheile tranken also ein – wenn auch immerhin verdünntes und filtrirtes – Cloaken- und Seewasser. Anfangs 1852 wählte die Lambeth-Gesellschaft für ihre Röhren- und Filtrirapparate eine höher gelegene, weder den städtischen Abgängen noch der Meeresfluth zugängliche Stelle des Stromes. Als nun in den Jahren 1853 und 1854 die Cholera abermals in London ausbrach, verloren die von der Lambeth-Company versorgten Bezirke, wo in der früheren Epidemie 12,5 pro Tausend gestorben waren, diesmal nur 3,7; hingegen betrug der Verlust der von der anderen Gesellschaft versehenen Stadttheile 13 pro Tausend gegen 11,8 der früheren Epidemie.

Wie grauenvoll jede Versündigung gegen die drei Grundlagen menschlicher Existenz: Luft, Licht und Wasser, an der allgemeinen Wohlfahrt sich rächt, und wie umgekehrt schon der kleinste Fortschritt in dieser Beziehung sich durch die segensreichsten Folgen belohnt, dafür liefert wiederum London den schlagendsten Beweis. In Wildcourt und Drury Lane sind neuerdings 13 Häuser durch Aus- und Umbau verbessert worden, wobei der Inhalt der Senkgruben in 150 Karren schwersten Kalibers und der in Kellern und sonst an Fundamenten aufgehäufte Unrath in 350 Karren weggebracht werden mußte. Unter den Dielen fanden sich 3–4 Zoll tiefe Schichten einer wimmelnden Masse von Ungeziefer jeder Art. In den Parterrewohnungen lagen die Cloaken mit dünnen Bretern verdeckt und führten ihren Gehalt unmittelbar in die Brunnen. Die 13 Häuser enthielten eine Bevölkerung von gegen 1000 Personen. Die Sterblichkeit in denselben überstieg den Durchschnitt (25 pro Tausend) ums Doppelte. Seit unter den Auspicien einer Reformgesellschaft die Häuser umgebaut und verbessert wurden, ist die Sterblichkeit auf 1/21/3, der durchschnittlichen Sterblichkeit Londons heruntergegangen.

Vor mehreren Jahren nahmen in einem anderen Bezirk Londons die Krankheiten, ohne daß irgend eine Epidemie herrschte, auffallend zu, und der abscheuliche Geschmack des Trinkwassers legte die Vermuthung nahe, in diesem die Ursache jener Gesundheitsstörungen zu suchen. Bei weiterem Nachforschen ergab sich, daß das Wasser aus der Gegend eines benachbarten, erst vor Kurzem geschlossenen Kirchhofs herstamme; wegen Mangels an Raum waren die Leichen daselbst reihenweise über einander gestapelt worden. Das quellige Erdreich hatte sich mit cadaverösen Substanzen vollgesogen; das so vergiftete Wasser war in die Brunnen gedrungen und hatte dem Wasser jene übeln Eigenschaften mitgetheilt. Nach Entfernung der Leichen verschwanden die Krankheiten.

Auch Wien, wo Typhus oder Cholera fast alljährlich ihre Magentas und Solferinos schlagen, leidet bis heut an der Ungunst eines gleich schlechten wie unzureichenden Trinkwassers. Ein großer Theil der Einwohner erhält nämlich das letztere aus dem Donaucanal, welcher fast sämmtliche Abzugsröhren der Stadt in sich aufnehmen und außerdem vier Mal jährlich die bei der Reinigung jener Canäle fortzuschaffenden Unrathsmassen beherbergen muß. Dabei fehlt es an einem einheitlich durchgeführten Abzugssystem. Je nach dem Zuwachs von Straßen wurde ohne Rücksicht auf ein planmäßiges Gefälle Röhre an Röhre, meist von höchst mangelhafter Bauart, gefügt. Diese Canäle empfangen in bunter Reihe nicht blos Regen-, Schnee- und Wirthschaftswässer, sondern auch überhaupt alle Auswurfstoffe der Residenz. Bei solchem Stande der Dinge wird eine radicale Abfuhr aller dieser Massen zur reinen Unmöglichkeit. Verwesender Unrath muß in den unterirdischen Behältern stagniren, in das Erdreich, die Brunnen dringen und eine Pandora-Büchse von Krankheiten eröffnen.

Das Wasser, welches wir trinken und zu unseren Speisen oder Gewerben brauchen, stammt – abgesehen von den Cisternen des Orients und einiger europäischer Gegenden – aus Quellen, Brunnen, Flüssen und Seen. Als Product atmosphärischer Niederschläge ursprünglich von fast vollkommener Reinheit, nimmt es vermöge der Auflösungsfähigkeit, die ihm für die allermeisten organischen und unorganischen Stoffe innewohnt, alle Eigenthümlichkeiten seiner örtlichen Verhältnisse an. Und so mag der Chemiker sein destillirtes Wasser in Sauer- und Wasserstoff zerlegen – die Natur schenkt uns nirgend reines Wasser ein. Selbst Thau, Nebel und Hagel sind nicht frei von fremdartigen, aus der atmosphärischen Luft entlehnten Theilen. Das Regenwasser enthält nicht blos Ammoniak, Salpetersäure und Kohlensäure, sondern es beladet sich überhaupt mit Allem, was es auf seinem Wege durch das Luftreich vorfindet, mit Staub und den verschiedensten pflanzlichen und thierischen Stoffen. In dem Regen, der sich mit dem aus den Oefen größerer Städte aufsteigenden Rauche verbindet, finden sich Salzsäure, Kochsalz, schweflige und Schwefelsäure.

In die stehenden oder fließenden Gewässer jagt der Wirbelwind Staubmassen und allerlei Blätter und Blüthen. Die Thiere, die sich darin aufhalten oder es vorübergehend benutzen, die Pflanzen, die sich im Wasser entwickeln, das Hochwasser, welches mächtige Uferstücke mit sich fortreißt – sie alle helfen das Wasser verunreinigen. Das gewöhnliche Brunnenwasser zeigt besonders häufig einen Gehalt von Kohlensäure, salpeter- und kohlensauren Salzen. In Flüssen findet man außer diesen noch Chlorkalium, Kieselerde, Koch- und Glaubersalz, Eisenoxyde, phosphor- und schwefelsaure Salze und organische Stoffe. Je schwerer löslich die Bestandtheile des Gefäßes, in dem sich das Wasser befindet, um so reiner wird dasselbe sein. So zeichnet das Wasser der Loka, eines Flusses im nördlichen Schweden, welcher in einem Granitbette fließt, sich vor vielen anderen durch seine Reinheit aus, indem es auf vier preuß. Quart nur 1/20 Gran an Mineralwasserstoffen enthält.

Uebrigens ist das Quellwasser, obwohl unserem Geschmack am meisten zusagend, doch im chemischen Sinne genommen am unreinsten, weil es bei seinem Ursprung immer Theile seiner Umgebung an sich reißt, vor sich herspült und auflöst. – An sich verhältnißmäßig reiner ist das Flußwasser, weil mit dem längeren Laufe des Stroms auch mehr Wasser verdunstet und die darin enthaltenen oder an Kohlensäure gebunden gewesenen Salze allmählich zu Boden sinken. Doch geschieht dies nur bei ruhiger Strömung, da jede heftigere Wellenbewegung das Absetzen von Mineraltheilen oder sonst hinzugekommenen Stoffen verhindert.

Indessen die Veränderungen, die das Wasser durch Naturprocesse erleidet, sind in der Regel demselben durchaus nicht nachtheilig, sondern verleihen ihm eben meist seinen Wohlgeschmack oder gesundheitsfördernde Eigenschaften. Wie fade, ja wie ungenießbar schmeckt Regen-, Fluß- oder destillirtes Wasser! Hingegen verdankt es einem Gehalt von Kohlensäure, ja selbst von Kalksalzen gerade seine erfrischende und belebende Wirkung, wie denn auch die segensreiche Heilkraft, welche den Mineralquellen innewohnt, nur von der Vermischung des Wassers mit erdigen Theilen herrührt.

Also nicht die Natur, sondern der Mensch, die Cultur verderben das Wasser, und fast gewinnt es den Anschein, als ob jede Erfindung, welche zur Erleichterung und Verschönerung unseres Lebens gemacht wird, eine Verschlechterung jenes unentbehrlichsten aller Lebensmittel zur Folge haben müßte. Das spüren sogar die Fische, welche bei der überhandnehmenden Dampfschifffahrt aus den Flüssen, und der unausgesetzten Beladung derselben mit den gewerblichen und häuslichen Abgängen auf den Aussterbe-Etat gesetzt zu sein scheinen!

Rastlos schreitet die Cultur fort. Die Bevölkerung der Großstädte, welche nicht Häuser genug bauen können für die Schaaren der ihnen zuströmenden Ansiedler, mehrt sich in’s Riesenhafte. Fabriken und industrielle Anlagen aller Art wuchern wie Pilze empor. Mit der stetig zunehmenden Menschenzahl steigt auch die der Kranken, und oft können die Lazarethe kaum die Unzahl der letzteren, die Friedhöfe kaum mehr die Legionen der Leichen beherbergen, wie denn London jetzt, dem ägyptischen Theben gleich, seine besondere Todtenstadt in Woking errichtet, und alltäglich einen 20 Todten-Extrazug – „hurrah, die Todten reiten schnell! – 20 englische Meilen weit in’s Land hinausschickt, weil es kaum mehr für die Lebenden, geschweige denn für die Leichen noch Raum hat. Der Erdboden, die Flüsse und Seen aber sättigen sich mit den Ausscheidungen der Menschen und Thiere, mit den Abgängen und Auswürfen des Gewerbfleißes und des Hauswesens.

So ist das Wasser von Newcastle am Tyne, woselbst fast lauter Steinkohle gebrannt wird, und namentlich die Fabriken dies Material in ungeheuern Mengen verbrauchen, ganz mit niedergeschlagenem Ruß vermischt; schöpft man davon, so sieht es aus, als ob ein Tuschpinsel darin ausgespült wäre. Uebrigens ist der Ort durch seine ungesunde Beschaffenheit und die Menschenhekatomben, die es allen Epidemien, besonders der Cholera, spendet, berüchtigt; der letzteren erlagen 1853 binnen wenigen Wochen an 2000 Personen.

Die Bewohner von Schweidnitz sahen zu ihrem Erstaunen vor etwa zehn Jahren das Wasser ihrer Weistritz sich allmählich ganz milchweiß färben. Die von dem Mikroskop als enorme

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_296.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)