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In theilweiser Beziehung ähnliche, aber immer noch ungenügende Schritte hat in England die „sanitary association“ auch bereits gethan.

Zweitens. Um die Schulerziehung auf eine des Zeitalters der Erkenntniß würdige Stufe zu bringen, muß die Pädagogik auf Universitäten und Seminarien zu einer eigenen und selbstständigen Wissenschaft, wie sie es vor allen anderen Wissenschaften verdient, und zwar auf exacter anthropologischer und besonders pädologischer Basis, erhoben werden. Unter pädologischer Basis ist eine solche zu verstehen, die in genauer Kenntniß der Eigenthümlichkeiten des kindlichen Organismus und des kindlichen Geisteslebens und in genauer Kenntniß der organischen Entwickelungsgesetze besteht. Würde so der Lehrerstand durch eine gediegenere, gründlichere anthropologische Vorbildung geistig gehoben, so würde er um so gerechtere Ansprüche haben, auch materiell, in seiner äußeren Lebensstellung gehoben zu werden. Durch eine gründlichere anthropologisch-pädagogische Ausbildung würde er auch befähigt werden, ein weiteres dringendes Desiderat unserer Zeit, eine innige geistige Verbindung zwischen Schule und Haus, zu vermitteln; denn er würde dann die Geltung als berathender Freund der Familien erhalten.

Drittens. Demnach würden zunächst die oberen und obersten Erziehungs- und Schulbehörden nicht, wie jetzt noch meistens, blos aus Juristen, Theologen und Pädagogen im alten Sinne, sondern vorzüglich aus solchen Männern zusammenzusetzen sein, die mit staatskundiger Befähigung in ihrer Mehrzahl eine gründliche pädagogische Bildung im obigen Sinne verbinden, damit von da aus diese Männer, den gegebenen Verhältnissen gemäß, die je nächstnöthigen weiteren Schritte in der Bahn nach dem Ziele ermitteln und verfolgen.

Die Mittel, welche Staat und Gemeinden, namentlich zur Einrichtung der dazu nöthigen Bildungsanstalten und zur entsprechenderen materiellen Lebensstellung des Lehrerstandes, beschaffen müssen, werden allerdings bedeutend sein. Sie werden aber sicherlich nicht fehlen, wenn man erst von der segensvollen Wichtigkeit und Dringlichkeit dieser Reformen allgemein überzeugt ist, und werden schon allein durch die Ersparnisse reichlich gedeckt, welche aus der durch Einführung allgemeiner Wehrfähigkeit in entsprechender Weise möglich werdenden Reduction des stehenden Heerwesens (jener epidemischen Schwindsucht der modernen Staatsorganismen) gewonnen werden. Denn wenn auch die meisten europäischen Staaten mit ihren offenen Grenzen hinsichtlich der Vereinfachung ihres Militärwesens sich z. B. mit der von natürlichen Festungen umschlossenen und durchzogenen Schweiz oder dem meerumgürteten England nicht vergleichen können, so wird dennoch die aus der eben möglichen Normalisirung des Militärwesens gezogene Ersparniß überall genügen, um damit die Bedürfnisse einer gehobenen Volkserziehung zu befriedigen. Aber auch selbst da, wo dies unerwarteter Weise nicht ganz der Fall sein sollte, möge man doch nur bedenken, daß die hierauf verwendeten Summen nicht nur in ihrem Capitale sich erhalten, sondern, weil sie die Reproductionskraft nähren und steigern, fort und fort wachsende Zinsen abwerfen, dagegen die Summen, die der Militär-Etat verschlingt, bekanntlich Zins- und Capitalverlust zugleich sind.

Immerhin also wollen wir die directe Förderung der Wehrfähigkeit der deutschen Nation nach allen Kräften stützen und verbreiten, aber auch dabei gleichzeitig auf ihre naturgemäße Basis, auf möglichste Hebung der gesammten Volkserziehung, unausgesetzt unser Augenmerk richten, wollen nicht ruhen und rasten, bis wir sagen können, daß die deutsche Nation nicht nur, wie schon jetzt – und danken wir dies immerhin unserer staatlichen Vielheit – an intellektueller Volkscultur obenansteht, sondern bis wir sagen können, daß sie auch an allseitiger, vollkräftiger Volkserziehung als ein Vorbild für die übrigen Culturvölker zu betrachten ist. Naturgemäße und allseitige (gleichmäßig körperliche wie geistige) Cultur schafft jene einzig unbezwingliche Macht, die hoch über Bajonneten und Kanonen steht.

Jener Weg, die directe Förderung der allgemeinen Wehrfähigkeit, ist der nächstnöthige, ungesäumt zu vollführende, sein eigentliches Ziel aber, wie gesagt, doch nur zu erreichen durch diesen Weg, durch Hebung und Harmonisirung der ganzen Volkserziehung. Dieser Weg ist zwar der schwierigere und langsamere, denn er findet seine Früchte erst in künftigen Generationen, aber er ist der einzig radicale, der einzig sichere, mag auch kommen was da wolle, und ist dazu der unerschöpflichste Quell des Segens für alle übrigen Lebensverhältnisse. Wer am Staate baut, baut nicht für den Augenblick, er baut für die Zukunft. Ein gesunder Staat wird aber nicht von oben herab gebaut, sondern er muß sich von unten herauf selbst aufbauen. Der Staat soll die großartigste Erziehungsanstalt sein, wo Einer den Anderen, wo Alle durch Alle sich stützen, tragen, heben – heben, aufwärts heben von Stufe zu Stufe auf der Bahn zur Verwirklichung der im Schöpfungsplane liegenden Menschheitsidee.

Machet das Volk nur gesund an Körper und Geist, so machet ihr es glücklich, so machet ihr es fähig, seine kulturgeschichtliche Aufgabe zu erfüllen, so machet ihr es unbesiegbar, ja unantastbar gegen äußere Feinde – das Volk und den Staat, mag dieser groß sein oder klein. Dies ist die einzig sichere Bürgschaft des Friedens. Alles übrige Heil des Staates entwickelt sich daraus von selbst, wie aus gesunder Wurzel gesunde Blüthe und Frucht!

Eine solche Politik allein hat festen Boden und triumphirt schließlich über jede andere, wenn diese auch künstlich zu einer noch so bedeutenden Höhe heraufgeschraubt, wenn sie auch eine noch so schlau berechnete wäre. Kniffige Schlauheit sinkt in den Staub vor der Allmacht der Naturwahrheit!




Erinnerungen an Ernst Rietschel.[1]

Von Berthold Auerbach.
I.

So möchte ich sterben, wie Rietschel. Solchen Ruhm zu erreichen, wie er, ist nur Wenigen vergönnt, aber so gehegt zu sein im Herzen der Freunde, das überragt allen Ruhm, ist größer, als alle Unsterblichkeit des Namens, gemeißelt und geschrieben. – Das waren meine Empfindungen, bald nachdem der erste erschütternde Schmerz vorüber, da ich den Tod des getreuen Freundes vernommen.

„Du hättest sehen können, was nicht so leicht wiederkommt: eine ganze Stadt in Thränen.“ So schreibt mir ein Freund, mich scheltend, daß ich nicht zum letzten Geleit gekommen war. Ich konnte nicht. Und konnte ich dem Abgeschiedenen nicht ein Wort in das offene Grab nachrufen, so will ich versuchen, jetzt, da die ersten Blumen aus seinem Grabe sprießen, einzelne Erinnerungen an ihn aufzuerwecken, mir zum Trost, Andern zur Erquickung.

Oft bereut man es, daß man nicht feste Aufzeichnungen von Lebensbegegnissen machte, und doch glaube ich, hat das wiederum sein Gutes. Das Leben wird bei der Tagebuch-Führung nicht unbefangen aufgenommen, unwillkürlich bildet sich ein Blick nach der Fixirung hin, und die unmittelbare gerade Aufnahme erhält etwas Schielendes. Eines jeden Menschen Leben und Entwicklung muß sich in gewisser Weise halten wie das Leben der Pflanze, die den Sonnenschein, Regen und Thau nicht als solche aufbewahrt; sie verwandeln sich vielmehr in das eigene Leben, das solche Einflüsse aufnimmt. –

Ich habe durch den Tod Rietschel’s einen Freund verloren, wie nicht leicht einer mehr wird. Zehn volle Jahre haben wir in innigem, beständigem Verkehr gelebt. Nie haben wir uns daran erinnert, wann und wie und wo wir einander zuerst kennen gelernt. Das war für uns keine Zeit mehr, es war von jeher nothwendig gewesen. Ich glaube, daß es in den meisten Fällen nicht aus Freude und Vertiefung, sondern aus theilweise unbewußter innerer Lockerung geschieht, wenn man einander die ersten Momente des Bekanntwerdens vergegenwärtigt: Du sahst so und so aus … kamst mir so und so vor … und fast wäre es anders geworden, u. dergl. Solches Heraufbeschwören der Vergangenheit

  1. Ueber Leben und Wirken des Schöpfers der Lessingstatue, der Schiller-Goethegruppe und des Lutherdenkmals verweisen wir unsere Leser auf Jahrgang 1857, Nr. 41.
    D. Redact.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_280.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2022)