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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

sehe und siege, und pflücke die Blume trotz aller Hände, die sich danach ausstrecken mögen.“

„Und die Früchte auch,“ fügte Pozzo di Borgo hinzu, indem er sich gegen den Tisch wandte, auf welchem in einem offenen Papiere eine Anzahl großer, schöner Kirschen lagen. „O,“ lachte er, „da liegen sie schon reif und prächtig und – leugne es nur nicht – jedenfalls sind sie ein Liebespfand, mit zärtlichen Wünschen und Zaubersprüchen gepflückt.“

„Wohl möglich,“ antwortete Napoleon, „aber Du kannst sie versuchen.“

„Ich werde mich davor hüten,“ rief Andrea, „denn ich denke an unsere corsischen Sitten und Hexereien. Wenn Zwei, die sich lieben, eine Frucht theilen, so ist das ein heiliger Schwur; wenn aber ein Dritter auch nur Stiel oder Stein davon anrührt, so mischt sich der Teufel ein und bringt Verderben über Alle.“

„Thorheit!“ rief Napoleon, „ich halte mein Glück auch gegen alle Teufel fest. Es soll mir Keiner jemals nehmen, was ich besitzen will.“

„Armer Demarris!“ sagte Andrea und zuckte die Achseln.

„Was ist mit ihm?“

„Im Grunde nichts, denn er tröstet sich wie ein Sokrates.

Der arme Junge hat irgendwo erfahren, daß es mit seinen Einbildungen nichts ist und daß ein Anderer, dem er solche profane Absichten gar nicht zumuthete, ihm den Weg verrannt, auch wohl gar schon die Festung erobert hat, die, wie er glaubte, ihm allein ihre Thore öffnen würde.“

„Demarris ist ein Narr!“ rief Napoleon, indem er sich umwandte und hastig auf und ab ging.

„Aber ein vortrefflicher, großmüthiger Narr; einer der erhabenen Narren, die für den Freund nicht allein in den Tod gehen, sondern auch Heroen der Selbstverleugnung sind. Er würde sich von jedem tarpejischen Felsen stürzen und mit seinem letzten Seufzer Dich segnen. Vorläufig jedoch verlangt er nur Gewißheit über sein Schicksal; Gewißheit, ob sein bewunderter Freund liebt und geliebt wird, ob er somit das zärtliche Paar beglückwünschen darf.“

Napoleon war an dem offenen Fenster stehen geblieben und blickte auf die Rhone hinaus, wo unter den Bäumen versteckt das Landhaus lag. Seine Hände, die er aus den Rücken gelegt hatte, zucken zusammen, er schleuderte das lange schwarze Haar um seinen Kopf und wandte sich heftig um, indem er den spottenden Andrea durchdringend anblickte.

„Das ist edel und groß!“ rief er. „Demarris ist ein guter, braver Mensch!“

„Gewiß ist er das! Schade nur, daß diese Treue nicht belohnt werden kann.“

„Wodurch?“

„Durch einen Wettkampf von Edelmuth.“

„Was würdest Du thun, Andrea?“ fragte Napoleon.

„Wenn der Spaß aufhören soll,“ erwiderte dieser, indem er eine von den Kirschen vom Tische nahm, die Napoleon ihm angeboten hatte, „so ist eine Antwort überflüssig. Sentimentale Pinseleien, auch wenn sie den Anstrich rührender Tugend haben, dürfen uns niemals bestimmen, sie zu unserem Vorbilde zu machen oder wohl gar übertreffen zu wollen. Du bist jedenfalls in ganz anderer Lage, als Dein opferfreudiger Freund.“

„Ich kann ihm nicht helfen!“ sagte Napoleon heftig.

„Du wirst geliebt und liebst; welche übermäßige Narrheit wäre es also, in irgend einen Zweifel zu fallen!“

„Nein!“ rief Napoleon, und er blieb einen Augenblick nachsinnend stehen, darauf streckte er seine Hand aus und fuhr fort: „Ich speise heute bei Frau von Colombier, begleite mich und nimm Theil daran, ich lade Dich in ihrem Namen ein.“

„Du hast Auftrag dazu?“ fragte Pozzo di Borgo.

„Ja, und ich bitte Dich es anzunehmen.“

„Herzlich gern,“ sagte Andrea. „Ich wollte zwar heute noch abreisen, aber ich bleibe bis morgen, wenn es Dir angenehm ist.“

„So erwarte ich Dich und – und hoffe, Du sollst mit mir zufrieden sein.“

„Ah, ein entschlossener Sprung über den Rubikon!“ rief Pozzo di Borgo.

„Du wirst nicht erstaunen?“

„Nein, nein! Wirf Deine Würfel, ich will Dir den Becher halten und dem großen Wurfe Beifall klatschen! Ich hole Dich ab, sobald Du befiehlst.“

Nach einer raschen Verständigung ging Pozzo di Borgo fort und als er hinaus war, sagte er leise lachend: „So ist Alles in Richtigkeit. Die gescheidte Dame hat ihn heut in der Frühe eingefangen, eingeladen, und ich soll dabei sein. Er will mir zeigen, wie groß sein Glück, seine Liebesgluth und seine Klugheit ist, die sich so schön vereinigen. Mit dieser Neuigkeit beladen werde ich nach Ajaccio kommen! Wohlan denn, so will ich mich so festlich als möglich schmücken, um ein galanter Brautführer zu sein.“

Während dessen blieb Napoleon unruhig in seinem Zimmer zurück. Sein Kopf war voll Gedanken, sein Herz voll fieberheißem Blut. Er hatte in Andreas Gesicht das leise Zucken seines Spottes gelesen, hatte die lauernden Blicke wohl bemerkt, und in den lobenden, antreibenden Worten ahnte sein Mißtrauen die verborgene Falschheit. – War dieser Mann nicht der frühste, erste Feind, den er, so lange er denken konnte, gehabt? War er nicht in den Jugendspielen schon sein Nebenbuhler, in der Schule sein Nebenbuhler, in der Meinung der Menschen über die Befähigung dieser beiden alle anderen überragenden Knaben sein Nebenbuhler? Ihr Ehrgeiz hatte sie überall feindlich gegenübergestellt, sie beneideten, sie haßten sich, sie hatten sich grollend endlich getrennt. Doch seit dieser Zeit war Vieles anders geworden, beinahe zehn Jahre vergangen. Jetzt sahen sie sich einsichtiger als Männer wieder und hatten den kindischen Streit vergessen. Warum sollten sie sich noch hassen, warum, worüber noch Nebenbuhler sein? Der Advocat kehrte nach Ajaccio zurück, Paoli hatte ihm seine Freundschaft und Liebe geschenkt; doch ohne Zweifel dachte Carlo Andrea daran, jetzt in Corsica eine Rolle zu spielen, wohl gar eine politische Rolle, eine, die zu einem neuen Befreiungsversuche führte. War Gastori nicht auch ein Advocat gewesen, hatten Männer dieser Art, Richter und Rechtsgelehrte nicht zu allen Zeilen hervorragenden Antheil an der blutigen Geschichte dieses kleinen, verlassenen Inselvolks genommen?

Als Napoleon dies Alles in seinem Gedankenungestüm bedachte, lief er heftiger auf und ab mit zuckendem Gesicht das schwarze Haar um die finstere Stirn. Corsica war für seinen Ehrgeiz zu klein, doch wenn die Corsen, von Paoli, von diesem Pozzo di Borgo und anderen Anhängern der Nationalpartei aufgehetzt, die Aufruhrfahne aufpflanzten, die französische Partei niederschlügen, von Frankreich sich losrissen, Paoli’s Republik wieder einsetzen wollten – Nun und nimmer sollte und durfte das geschehen! Frankreich befand sich auf dem Wege zu großen und wichtigen neuen Gestaltungen. Necker, die Freunde der Freiheit, die Nationalversammlung, das Volk, das Heer – alle wollten sie, alle hofften darauf. Die hochmütigen Elemente des Hofes, des alten Adels strebten allein dagegen, aber was konnten sie thun? Sie mußten weichen und fallen. Standen nicht manche berühmte Namen, Männer aus den vornehmsten Familien schon bei der Volkssache? Die Lafayette, die Noallis, Mirabeau, Andere und er selbst, der kleine Lieutenant, er mit seinen Entwürfen, mit seinem Ehrgeiz! – Wenn er sich in diese große Bewegung stürzte, mit seinen Empfehlungen an die ersten Männer des Hofes, er würde sich Bahn brechen. Necker sollte ihn sehen, er sollte seine Entwürfe hören, der tugendhafte, große Minister, der Retter Frankreichs, der Liebling des Volks. In seiner begeisterten Stimmung glaubte er schon vor ihm zu stehen, und was er ihm sagen wollte, lief mit Gedankenblitzen durch sein Gehirn und gestaltete sich zu abgebrochenen Sätzen, die er rasch und wild mit rauher Stimme hervorstieß. Er war gewiß, daß er zu großen Dingen, zu großen Thaten bestimmt sei, er fühlte die Kraft dazu; er fühlte den Hauch des gewaltigen Geistes, der ihm zurief: „Du wirst mit Deinen Thaten die Welt erfüllen!“

Und wo gab es einen anderen Weg, als den, der vor ihm lag? Dies Liebesbündniß mit der Tochter eines alten, edlen Geschlechts war der Anfang, es war der erste Handschlag des Glücks. Und dieser mißgünstige, dieser lauernde Andrea mit seinem falschen Lächeln, mit seinem listigen Beifall, was wollte er?

„Ha! wenn –“ Napoleon stand still, die Begeisterung verschwand aus seinen Mienen. In dem Augenblick entstand ein Gepolter auf der Treppe. Es kam Jemand eilig die Stufen herauf, dann wurde die Thür aufgerissen, Demarris trat mit erhitztem Gesicht herein und lief auf Napoleon zu, der vor ihm zurückwich.

„Weißt Du es schon?“ rief Demarris heftig.

„Ja, mein Freund,“ erwiderte Napoleon, „beruhige Dich.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_259.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)