Seite:Die Gartenlaube (1861) 222.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Langsam war Reichardt nach dem Zimmer unter dem Dache in Congreßhall hinaufgestiegen, das er mit einem Gefühl der Erleichterung leer fand, und warf sich hier auf den nächsten Stuhl, um sich einen Moment seinen Empfindungen zu überlassen. Vor ihm stand bald die schlanke, volle Harriet Burton mit ihrem dunkeln leuchtenden Blicke, der ihm so viel zu erzählen schien, als er nur darin hätte lesen mögen; bald trat das frische, lachende Gesicht ihrer Begleiterin hervor, und er hätte sich versenken mögen in die Tiefe dieser milden, blauen Augen; nach Kurzem aber sprang er kräftig von seinem Sitze auf. „Alles Unsinn!“ rief er, einen Gang durchs Zimmer machend, „höchstens gut, um mir meinen künftigen Weg selbst noch zu erschweren. – Nur der Neger fiedelt zum Tanze,“ fuhr er stehen bleibend fort, „das ist die richtige Arznei, und ich werde daran denken, wenn ich einmal wieder in Versuchung komme, den Gentleman zu spielen – vorläufig aber sollen sie doch einmal eine Probe von Fiedeln bekommen!“ Er öffnete seinen Violinkasten, suchte ein Notenheft unter dem Pack der daliegenden Musikalien heraus und machte sich fertig, um an die ihm vorgeschriebene Uebung zu gehen. – Das „Supper“ war vorüber, und in dem großen Saale, welcher der kühlen Abendluft nach allen Seiten hin den Zutritt gestattete, promenirten bereits zahlreiche Paare in glänzender Toilette, der Musiker harrend, welche so eben von den Ueberbleibseln des Mahles ihren Hunger stillten. Reichardt hatte das nöthigste Bedürfniß befriedigt und eilte noch einmal nach dem gemeinschaftlichen Zimmer hinauf, um das von ihm gebrauchte, zurückgebliebene Notenheft zu holen, während die Uebrigen sich fertig machten, um ihre Plätze im Saale einzunehmen. Das fehlende Heft war schnell gefunden, und der junge Mann schlug einen Weg durch die Corridore ein, welcher ihm der nächste nach dem Saale zu sein schien, sah aber bald, daß er am Ende eines Ganges stand und die Treppe verfehlt haben müsse. Er wollte sich eben auf dem weichen Teppiche, welcher jeden Schritt unhörbar machte, zurück wenden, als aus dem nächsten nur theilweise geschlossenen Zimmer es ihm wie eine halblaut gehaltene Predigt entgegenklang. Unwillkürlich blieb er bei dem sonderbaren Klange stehen und horchte.

„Es lebt noch etwas in Ihnen, theuere Schwester, was dem Worte, das an Ihr Herz pocht, entgegenstrebt,“ hörte er; „Christus ist wohl in Ihnen, aber die Welt mit ihren Begriffen und Ansichten ist noch stärker in Ihrem Herzen. Wenn erst Christus ganz in Ihnen zum Durchbruch gekommen sein wird, dann werden Sie mit derselben brünstigen Liebe, mit welcher er die Seinigen umfing, den Bruderkuß empfangen und ihn zurückgeben, dann werden Sie in den stillen Stunden, die wir seinem Dienste widmen, an das Eine denken, daß nur die sein eigen sind, welche sich ihm ohne Vorbehalt ergeben, und daß die Liebe, wie sie seine Auserwählten umschlingen soll, aller Heiligung Anfang ist!“

Es ward still im Zimmer, und Reichardt schlich, den Athem an sich haltend, der Thürspalte näher, aber er konnte die Personen der Scene nur theilweise sehen; ein Mann in dem langen schwarzen Rocke der amerikanischen Geistlichen saß dicht vor einem Schaukelstuhle, gegen die darin ruhende Dame gebeugt und deren beide Hände in die seinigen geschlossen. Der Lauscher konnte nur das volle braune Haar des Mannes erblicken, während der Oberkörper von dessen frommer Gefährtin seinem Auge ganz entzogen war. Reichardt wartete noch einige Secunden, konnte aber nichts entdecken, als daß die Hände sich fester in einander zu schließen schienen, und eilte mit einem Kopfschütteln leise nach der verfehlten Treppe. Auch seine Gedanken über die eben behorchte Scene wurden durch das Anstreichen der Instrumente im Saale in den Hintergrund gedrängt, er hatte schnell die offene Thür des Tanzlocals erreicht und schritt dort, ohne sich umzublicken, nach dem erhöhten Platze, welchen seine Collegen bereits eingenommen. Erst von hieraus übersah er die durcheinanderwogende Gesellschaft, und entdeckte bald seine früheren Gesellschafterinnen, strahlend in der luftigen, reichen Balltoilette. Harriet in sichtlich sprudelnder Laune wanderte am Arme eines jungen Mannes durch den Saal, und schien durch ihre Bemerkungen einen ganzen Trupp Anderer, welche dem Paare folgten, in die heiterste Laune zu versetzen; nicht einmal aber hob sich ihr Auge nach dem Orchester, so scharf sich auch Reichardt’s Gestalt im Vordergrunde von den übrigen Musikern abzeichnete.

Margaret dagegen ging an dem Arme eines ältlichen Mannes, welchem sie eifrig zu erzählen schien, und hier glaubte Reichardt zum Oefteren einen halbverdeckten Blick von ihr wie von ihrem Begleiter aufgefangen zu haben.

„Wir geben zuerst ein Stück Unterhaltungsmusik,“ zischelte der kleine Dirigent dem jungen Manne zu, „es ist noch etwas zu früh zum Tanzen, und wir zeigen gleich, daß wir auch etwas Ordentliches leisten können; so etwas hilft zur Recommandation.

Nr. 4, das Solo, das wir gestern probirt haben.“

Reichardt nickte nur und blätterte sein Notenheft auf; er wußte, der Alte wollte mit seinem Spiele Staat machen, kaum hätte dieser ihm aber im Augenblicke einen größern Gefallen erweisen können. Nr. 4 war nichts Anderes als Ernst’s „Elegie“, welche, aus dem Nachlasse eines verstorbenen Geigers in die jetzigen Hände gelangt, hier todt gelegen hatte, von Reichardt aber beim Durchstöbern des Musikvorraths schnell genug aufgefunden worden war. Es war nur Quartett-Begleitung dazu, aber Reichardt’s großer schöner Ton hatte trotzdem den Alten schnell den Effect, welchen die Pièce hervorbringen müsse, erkennen lassen.

Die Einleitung begann, ging aber in dem Lachen und Schwatzen der promenirenden Gesellschaft unter, und erst als die Töne des Solo’s, mit jeder Note sich mehr heraushebend, in wahrer Großartigkeit des getragenen Spiels sich geltend machten, blieben einzelne Paare stehen und begannen aufmerksam zu horchen; bald indessen ward der Zuhörerkreis größer, die lautesten Lacher wurden zur Ruhe gewinkt, und in Kurzem hatte die Macht des Vortrags eine volle Stille geschaffen. Reichardt warf einen Blick über seine Noten hinaus und sah ringsum die Augen auf sich geheftet; eine tiefe, wohlthuende Genugthuung zog in seinem Herzen auf; mit einer Leichtigkeit, die er früher kaum gekannt, führte er die bekannten Passagen durch, brachte er den Charakter der Composition zur vollen, ergreifenden Wirkung, und als er endlich den letzten Halt hatte verklingen lassen, als er unter dem losbrechenden Applaus aufsah, traf sein Blick Margaret’s Auge, die noch wie in voller Selbstvergessenheit zu ihm aufsah, und ihm wurde es plötzlich, als wisse er jetzt, warum ihm das Klagen seiner Violine selbst so viel Genugthuung gegeben. Hinter ihm aber rieb sich der Alte befriedigt die Hände und schickte sich an, das Orchester zu verlassen, „um die Gelegenheit zur Recommandation warm zu benutzen“, wie er dem jungen Manne in die Ohren zischelte. Dieser trat, um ihm den Weg frei zu machen, hinab in den Saal, wo bereits die Promenade wieder im vollen Gange war; noch hatte er aber hier, die Augen in das Gewühl gerichtet, keine Minute gestanden, als dicht an seiner Seite zwei Damen vorüberrauschten und er sich zugleich ein Stück Papier in die Hand gedrückt fühlte. Nur im Fluge konnte er Harriet’s Gesicht erkennen, das aber, dem lebhaften Gespräche hingegeben, von einem Gedanken an ihn am wenigsten zu wissen schien. Reichardt trat auf das Orchester zurück und entfaltete den Zettel. Er enthielt nur zwei mit Bleistift hingeworfene Zeilen: „Gut, sehr gut! aber was hilft’s? Bei der ersten Quadrille ist der Nigger dennoch da!“

Reichardt biß sich auf die Lippen, seine warme Stimmung verschwand wie unter einem Sturzbade. Sein Blick flog durch den Saal, während sich das Papier in seiner Hand zerknittert zusammenballte; dort stand sie, lachend und conversirend, als habe sie von seiner Existenz keine Ahnung – er hätte sie gern hassen mögen, wäre sie nur in dieser Balltracht, die der Geschmack selbst arrangirt zu haben schien, nicht so sinnberückend schön gewesen. Aber er behielt keine Zeit zu langem Grübeln, ein lautes Klatschen wurde hörbar, der kleine Dirigent kam in raschem Schritte auf das Orchester los, und die Paare flogen durcheinander, um sich zur Quadrille aufzustellen. Reichardt griff nach seiner Geige, entschlossen, sich durch keinen unnützen Gedanken mehr stören zu lassen, und mit dem Zeichen zum Beginn ließ er den aufgelegten „Reel“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_222.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)