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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

No. 6.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Am Scheidewege.

Von Th. Mügge.[1]


1.

An einem Julitage des Jahres 1789 lag die alte Stadt Valence im schönsten Sonnenschein unter blauem Himmel, und wer sie so zum ersten Male und in der Ferne vor sich erblickte, wie dies einem Reisenden geschah, der damals eben auf der Straße von Grenoble in einem kleinen Postcarriol sich ihr näherte, der mochte sich nicht leicht vorstellen, daß dies wirklich ein so altmodischer, finsterer Ort voll enger Gassen und hoher Giebelhäuser sei, wie man es ihm berichtet hatte.

Das bergige Land glänzte rings in seinen grünen Gewändern, mitten hindurch bahnte sich die Rhone brausend und schäumend ihren Weg, und je näher der Stadt, um so zahlreicher streckten sich Fruchtgärten und Landhäuser an den Lehnen des Stroms und der Hügel aus, bis wo Valence selbst von seiner schwellenden Höhe herunterblickte. Und wer hätte bei diesem sanften, schönen Rundbilde voll Glanz und heiterer Ruhe wohl daran denken mögen, daß das ganze Land der Franzosen eben jetzt voll gährender Leidenschaften und wilder Parteikämpfe sei; war es doch, als ob man hier nichts von den stürmischen Auftritten in Paris wüßte, die Menschen vielmehr alle in friedlicher Abgeschiedenheit glücklich wohnten und lebten, als seien sie weit davon entfernt.

Der Reisende auf dem Postkarren mochte ähnliche Gedanken haben, als er die duftigen Berge und die sonnenleuchtende Stadt ernst und nachdenkend und dann vor sich hin lächelnd betrachtete. Er war noch jung an Jahren, aber sein Kopf mit breiter Stirn, über welcher ein gewaltiger schwarzer Haarwuchs sich ausbreitete und unter der zwei dunkle Augen scharf und lebhaft glänzten, sah männlich und kräftig geformt aus. Seine Hautfarbe hatte einen südlichen bronzenen Ton, auch seine Kleidung schien ziemlich fremdartig. Er trug einen braunen kurzen Mantel von grobem Wollenzeug, mit einer Kappe versehen, die im Nothfall über den Kopf gezogen werden konnte, und um den Leib einen Gurt, der dies weite, bequeme Gewand zusammenhielt. Auf dem Postkarren lag ein leichter Mantelsack, und Alles in Allem schien dieser Reisende keiner, der zur vornehmen Gesellschaft gehörte; doch das ließ sich zu jener Zeit schon nicht als besonderes Glück mehr betrachten. Als der Wagen das Thor erreichte, stand dort eine Wache, die ihn anhielt, und es kam ein Sergeant heraus vom Artillerieregiment La Fere, das hier in Garnison lag, um ihn zu examiniren. Valence wurde als Festung betrachtet, wenigstens hatte es einen befestigten Kern, eine Citadelle, in welcher neun Jahre darauf der arme, alte Papst Pius VI. als ein Gefangener starb. Gefangener der französischen Republik, hierhergeschafft auf Befehl desselben Mannes, der jetzt dort oben in dem baufälligen Giebelhause am Ende der Straße seinen Arm auf das Fensterkreuz gestützt, starr hinausblickt in das Rhonethal, ohne auf den Karren am Thore zu achten.

„Wer sind Sie?“ fragte der Sergeant vom Regiment La Fere den Reisenden.

„Ich bin ein Student der Rechte,“ antwortete der Fremde mit wohllautender Stimme.

„Woher kommen Sie?“

„Ich komme aus Pisa, aus Italien, von Turin und Chambery. Hier ist mein Paß.“

„Wie heißen Sie?“ fragte der Examinator, indem er in das Papier blickte.

„Ich heiße Carlo Andrea Pozzo di Borgo.“

„Ein Italiener! Ich dachte es beinahe,“ nickte der Sergeant aufblickend, „obwohl Sie verteufelt gut französisch sprechen.“

„Das kommt daher,“ lächelte der Student, „weil Frankreich uns gewürdigt hat, zu ihm gehören zu dürfen.“

Der Sergeant begriff den Sinn dieser Antwort nicht recht.

Er starrte den Reisenden an.

„Ich bin ein Corse aus Ajaccio,“ fuhr dieser lächelnd fort.

O, sacre bleu! jetzt versteh’ ich!“ rief der Sergeant und legte die Hand an seinen Hut. „Die Corsen sind brave Leute. Wir haben Einen bei unserem Regiment. Wart einmal, richtig! der ist auch aus Ajaccio. Vielleicht kennen Sie ihn. Wir haben hier einen Lieutenant mit Namen Bonaparte.“

„Napoleon Bonaparte.“

„Es kann sein, hier giebt’s nur den Einen.“

„Ich kenne ihn recht gut,“ sagte der Reisende.

„Dann müssen Sie ihn besuchen.“

„Das will ich gewiß thun. Kann ich erfahren, wo er wohnt?“

Der Sergeant drehte sich um; es hatte sich eine Anzahl Soldaten vor der Wache versammelt, welche neugierig zuhörten.

„Weiß Keiner, wo der Lieutenant Bonaparte wohnt?“ fragte er.

Aber der Held, welcher wenige Jahre darauf seinen Namen so bekannt gemacht hatte, daß jedes Kind davon zu erzählen wußte, war den meisten dieser Soldaten fremd, und wo er wohnte, konnte Niemand sagen. Der Sergeant fluchte und rief noch mehrere Andere herbei, die verschiedene Quartiere angaben und sich darüber stritten. Darauf schrie der alte Krieger: „Schweigt Alle still! Dort kommt der Lieutenant Demarris, der weiß es gewiß.“

Ein junger Herr in Uniform mit rothen Rabatten schritt so eben die Straße herab, und der Sergeant ging ihm ein paar


  1. Wir veröffentlichen heute die letzte Arbeit dieses jüngst verstorbenen Autors. Als ob es wie eine Ahnung seines baldigen Todes über ihn gekommen, nannte er das letzte Product seiner Muse: „Am Scheidewege“. – Mit ihm ist einer unser besten Novellisten und ein treuer, ehrlicher Patriot geschieden.
    D. Redaction
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_209.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)