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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Alles offen wie auf den Präsentirteller hingelegt, und langsam ging er endlich einer entfernteren Baumgruppe zu, die ihm wenigstens einen Platz verhieß, um ungestört eine Stunde ruhen und grübeln zu können. Die Stelle schien wenig betreten zu werden, dichter Graswuchs empfing ihn unter den Bäumen, und ohne sich lange zu bedenken, streckte er sich, eine hervorragende Wurzel zum Kopfkissen wählend, bequem auf dem Boden aus. Ein leiser Luftzug strich hier kühlend durch sein unbedecktes Haar, eine Stille lag um ihn, in welcher er jedes bewegte Blatt rauschen hörte, zugleich aber bot sich auch seinem Auge die volle Aussicht auf die Umgebungen der Hotels. Dort fing es jetzt an lebendig zu werden. Wagen auf Wagen wurde sichtbar, vom eleganten Phaeton bis zum einfachen Buggy, bald tauchten die hellen Kleider der einsteigenden Damen dazwischen auf, und in Kurzem rollte Gefährt auf Gefährt mit eleganter Gesellschaft besetzt auf der Straße heran, die sich kaum fünfzig Schritte von Reichardt’s Ruheplatze hinzog und die Lieblingsrichtung für Spazierfahrten zu bilden schien. Der Ruhende ließ die ganze Reihe lachender Gesichter, reicher Toiletten, courbettirender Reiter und eleganter Wagenlenker wie ein buntes Bild an sich vorüber ziehen; als aber das Geräusch des letzten Wagens verklungen war, schloß er die Augen und begann zu grübeln, wohin ihn denn wohl, selbst im glücklichsten Falle, sein jetzt ergriffenes Geschäft führen könne, ob ihm auf diesem Wege wohl jemals wieder der Eintritt in die Gesellschaft, zu welcher ihn Erziehung und Lebensgewohnheit zogen, ermöglicht werde. Wie ein Trost, an den er sich fest zu klammern beschloß, klangen ihm die Worte in Mathildens Brief aus seiner Erinnerung: „Und wenn Du jetzt mit der Trommel anfangen müßtest, so denke daran, daß den größten Männern in diesem außergewöhnlichen Lande selten ein besserer Anfang beschieden gewesen ist!“

Er bedeckte das Gesicht mit seinem Schnupftuche und überließ sich seinen Phantasiebildern, bald in ein halbwaches Träumen verfallend. – Schon seit einer Weile hatte er gemeint, zwei lachende, helle Stimmen seitwärts aus der Entfernung gehört zu haben; jetzt klang es plötzlich wie in gedämpftem Tone in seiner unmittelbaren Nähe: „Sieh hier, Margaret, wer ist das? Ist es das Eichhörnchen oder der Waschbär? Wir haben nur noch zwei junge Gentlemen von dieser Figur hier!“

Nur ein leises, mit hörbarer Macht unterdrücktes Kichern war die Antwort.

„O, es ist keine Gefahr,“ fuhr die erste Stimme wie als Beruhigung auf eine stumme Warnung fort, „er rührt sich nicht, ich beobachte ihn schon seit zwei Minuten; aber wissen muß ich, wer hier die Nachmittage verschläft und uns langweilen läßt, so gut wir können!“

Eine tiefe Stille folgte jetzt, dann fühlte Reichardt leise eine Ecke des Taschentuchs von seinem Gesichte gehoben – er hatte die Augen weit offen, und kaum wurde eins derselben frei, als er mit einem: „How do you do, Ladies?“ plötzlich aufrecht saß.

Ein doppelter Schrei, ein flüchtiges Davoneilen zweier schlanker, mit breiten Strohhüten versehener Gestalten war die einzige Antwort.

„O wie feig jetzt!“ rief Reichardt, sich rasch erhebend, und beim Klange der fremden Stimme hielt die Hinterste der Flüchtigen ihre Schritte an, drehte sich langsam um, und ließ wie in halber Scheu einen prüfenden Blick über die ganze Erscheinung des jungen Mannes laufen; dann stieg ein neckisches Lächeln in ihrem Gesichte auf und halb zögernd trat sie einige Schritte näher. „Wir glaubten nicht, daß wir jetzt noch einen Fremden hier treffen könnten!“ sagte sie, und es gewährte einen eigenen Reiz, den Kampf in diesen dunkeln, muthigen Augen gegen die noch nicht überwundene Befangenheit zu sehen.

„Da es nun aber so ist, Miß,“ erwiderte Reichardt, in welchem der ganze Humor seiner eigenthümlichen Lage erwachte, herantretend, „in welche Classe des Thierreichs würden Sie mich rangiren?“

Ein rasches Roth schoß in ihrem Gesichte auf. „O, das sind erhorchte Geheimnisse, Sir, die man ehrenhalber nicht einmal andeuten sollte!“ rief sie lachend: „übrigens habe ich nur um Entschuldigung bitten wollen –“ sie machte eine halbe Bewegung, um sich zurückzuziehen.

„Aber darf ich nicht helfen, Ihnen die Langeweile zu vertreiben?“ fuhr Reichardt in seinem frühern Tone fort, „oder meinen Sie, ich wollte mich wissentlich derselben Sünden schuldig machen, als Andere?“

Sie wandte sich zurück, und um ihren Mund zuckte die volle, kecke Laune. „Sie sind heute erst hier angekommen, Sir?“

„So ist es, Miß, und ich wohne in Congreß Hall.“

„In Congreß Hall, very well, das ändert die Sache!“

Sie ließ den Blick eine Secunde voll in seinem Gesichte ruhen.

„Ich denke, wir werden mit einander auskommen – zuerst aber lassen Sie uns einander anständig vorstellen. Miß Harriet Burton aus Tennessee.“

„Mr. Max Reichardt aus Preußen!“ ahmte der junge Mann lächelnd nach. Sie schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen, als wolle sie versuchen den gehörten Laut nachzusprechen.

„Sonderbare Namen bei den Ausländern!“ sagte sie, während ihr Blick nochmals wie in einem neuen Interesse Reichardt’s Erscheinung überlief, „ich werde den Ihrigen erst noch lernen müssen! – Jetzt aber,“ fuhr sie um sich sehend sort, „ist es wohl Zeit nach dem Hotel zu gehen, Margaret scheint sich nicht einen Schritt haben aufhalten zu lassen!“

Er bot ihr den Arm und durch seinen Kopf schoß es, als er von der vollen schönen Büste des Mädchens zu dem stolz getragenen Kopfe aufsah, welchen Ausdruck wohl dieses Gesicht im ersten Augenblicke annehmen werde, wenn es ihn in Gesellschaft seiner Collegen zum Tanze aufspielen sehe. Es war indessen keine Bitterkeit mehr, welche der Gedanke in ihm erweckte; die Erinnerung an Mathildens Brief hatte eine wunderbar beruhigende Wirkung auf ihn geübt – blieb er denn nicht derselbe, wenn ihn auch jetzt die Verhältnisse zwangen, einem ungewohnten Lebenserwerbe nachzugehen? – es war eher ein frischer Humor, der ihn antrieb, seine jetzige Rolle bis zu ihrer Entwickelung durchzuspielen.

„Sie sind noch so jung,“ begann jetzt seine Begleiterin, halb zu ihm aufsehend, „waren Sie auch schon Politiker, daß Sie Ihr Vaterland haben verlassen müssen?“

„Es war wohl Jeder mehr oder weniger an den politischen Ereignissen betheiligt,“ erwiderte er lächelnd, „wenn Sie aber damit nach meiner Lebensstellung fragen wollten, so gebe ich Ihnen die Auswahl. Ich bin Kaufmann, wenn Sie wollen, aber auch Musiker – “

„Musiker, seien Sie Musiker!“ rief sie lebhaft. „Ich habe schon einige Ausländer, Ungarn glaube ich, in unserm Staate kennen lernen, und sie waren alle wie geborene Musiker. Wir haben hier einen prachtvollen Flügel im Versammlungszimmer, aber nicht einen ordentlichen Spieler, und ich liebe doch die Musik leidenschaftlich! Kommen Sie, jetzt wird es mir ganz hell im Herzen!“ Sie schob ihren vollen Arm wie unwillkürlich fest unter den seinen, ließ ihn in ihre dunkeln, aufstrahlenden Augen sehen und begann zu einem raschern Schritte zu drängen. Bald lag die Piazza des Hotels, noch eben so leer als früher, vor ihnen; zwischen den Schlinggewächsen aber blickte ihnen ein frisches blühendes Gesicht unter dem breiten Strohhute lachend entgegen. „Da ist sie!“ rief die Brünette, ihren Begleiter loslassend und ihm voraus die Stufen hinauf eilend, „jetzt sagen Sie, Sir, wer feig war!“

Reichard war gefolgt, und unwillkürlich blieb sein Blick in einem Paar warmer, dunkelblauer Augen hängen, die wie in halb scheuer Neugierde auf ihn geheftet wären. „Mr. Unaussprechlich, Kaufmann aus Preußen – er wird Dir seinen Namen selbst nennen, den Du jedenfalls besser verstehen wirst,“ begann Harriet vorstellend, „ein ausgezeichneter Musiker, der uns sogleich auf dem Piano entzücken wird – und hier Miß Margaret Frost aus Newyork, ein wahres Muster von Freundin, welche nur mir zu Liebe die Langeweile in Congreß-Hall bis jetzt ertragen hat!“

Reichardt hatte ein paar launige Worte aus den Lippen, aber diesem lieben, fast noch kindlichen Gesichte gegenüber, das ihm wunderbar warm zum Herzen sprach, verschwanden sie aus seinem Gedächtniß. „Ich heiße Max Reichardt, Miß,“ sagte er sich leicht verbeugend, „der Klang mag ungewohnt für die englische Zunge sein –“

„Aber nicht für mich!“ erwiderte sie lächelnd in so klarem, wohllautendem Deutsch, daß die Ueberraschung dem jungen Manne das Blut in die Backen trieb und in dem Gesichte der Sprechenden einen hellen Wiederschein hervorrief. „Vater ist selbst ein Deutscher und hat einen Bekannten Ihres Namens –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_207.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)