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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Kindes! Wie unendlich leicht konnte irgend ein anderer unglücklicher Zufall hinzutreten!

Aber was halfen diese und ähnliche Gedanken und Befürchtungen? Es mußten vielmehr Besonnenheit und Muth zusammengenommen werden. Es konnte noch zu handeln geben. Ich schlug mir alle Furcht aus dem Sinne. Dem Dolmetscher sah ich ebenfalls die Entschlossenheit an, und nur der Wirth ging bleich wie ein Gespenst, auf jeden Laut horchend, in der Stube umher. Seine Angst war mir lieb, denn um so weniger war seine natürliche Falschheit zu fürchten. In der Stube nebenan, in der die Verfolgten sich befanden, hörte man nichts; auch draußen war es still. Der Regen hatte nachgelassen, ein leichter Wind strich schwirrend durch ein paar Fichten, die seitab vom Kruge standen. Dichte Regenwolken hingen noch immer am Himmel, und die Finsterniß draußen war eine fast undurchdringliche.

Die Wanduhr zeigte zehn Minuten über Mitternacht. Durch die Stille der Nacht wurde ein Laut hörbar, von der entgegengesetzten Seite des Dorfes her. Dort war die polnische Grenze. Der Krüger zuckte zusammen und stellte seinen Spaziergang durch die Stube ein.

„Das sind sie, Krüger?“ sagte ich.

„Ich glaube.“

„Ja, ja,“ sagte er gleich darauf bestimmt.

„Dürfen sie das Licht hier in der Stube sehen?“

„Es war nicht davon gesprochen. Aber besser, wir machen es aus; wir können es ja jeden Augenblick wieder anzünden.“

Ich blies die Lampe aus, die auf dem Tische stand. Es war das einzige Licht in der Stube.

„Ist die Hausthür offen?“

„Sie ist nur angelehnt.“

„So war wohl die Abrede?“

„Ja.“

„Und Niemand soll sich hören oder sehen lassen?“

„Kein Mensch.“

„Wollte man hier in die Krugstube kommen?“

„Nein. Sie wollen gleich nach oben und dann auf der Stelle zurück.“

„Wer führt sie an?“

„Der Officier, der hier war. Er war von Marianopel gekommen.“

Ich fragte nicht weiter. Jener Laut war näher gekommen. Es war noch immer ein unbestimmtes Geräusch; erst als es aus dreißig bis vierzig Schritte näher gekommen sein mochte, unterschied man leises Klirren von Waffen und das Schnauben von Pferden. Den Tritt vernahm man auch jetzt kaum, denn der Weg war von tiefem Sand, und die Hufe der Thiere mußten ohne Eisen sein, denn die Russen reiten so. Sie kamen im Schritt näher. Ich trat in die Nähe eines Fensters, das nach der Straße hinführte, und durfte es bei der völligen Dunkelheit, die in der Stube wie auf der Straße herrschte. Eine dunkle, in der Straße wogende Masse langte gerade vor dem Hause an; auf ein leises Commandowort machten sie Halt. In dem Momente herrschte die tiefste Stille, kein Rasseln oder Klirren eines Säbels mehr, keine Menschenstimme, selbst kaum noch ein leichtes Schnauben eines Pferdes. Ich überzählte die Masse rasch, ich schätzte sie mir in Gedanken, es konnten an vierzig Mann im Wege halten. Dunkle Gestalten auf dunklen Pferden, weiter konnte ich nichts erkennen. Sie vertheilten sich ohne ein neues Commando, Jedem mußte schon vorher seine Bestimmung angewiesen sein. Die Localität war dem Anführer, wie wohl manchem Anderen der Truppe bekannt. Sie ritten still auseinander. Man hörte jetzt in der nächsten Nähe kaum den Tritt der Pferde, man hörte kein Athmen; es war als wenn die Reiter den Thieren zugeredet und diese sie verstanden hätten. Sie ritten in kleinen Trupps auseinander in verschiedenen Richtungen; unzweifelhaft besetzten sie das Haus von allen Seiten; etwa die Hälfte war auf der Straße vor der Thür zurückgeblieben.

Als sie sich vertheilt hatten und es in der Straße lichter geworden war, entdeckte ich einen niedrigen bedeckten Wagen, den sie umgeben hatten; er hielt jetzt frei mitten auf der Straße. Solcher „Kibitken“ pflegten die Russen zu solchen Executionen sich zu bedienen. Von den vor dem Hause Zurückgebliebenen verließ die Hälfte die Pferde; sie gingen auf das Haus zu. In demselben Augenblicke drehte der Wagen auf der Straße um.

Ich trat von dem Fenster zurück und eilte an die Thür der Krugstube. Konnte ich auch nicht sehen, was im Hause vorging, hören mußte ich es so deutlich wie möglich. Ich hob fast unbörbar die Klinke der Hausthür auf; so war sie nur angelehnt, ich konnte sie jeden Augenblick völlig geräuschlos weiter öffnen. Was sich auf dem Flur zutrug, konnte ich schon jetzt besser hören. Den Dolmetscher winkte ich zu mir heran; er sprach russisch und polnisch und sollte mir die Worte übersetzen, die ich nicht verstand.

Die nur angelehnte Hausthür wurde leise geöffnet; zehn bis zwölf Mann traten eben so leise in den Hausflur; die meisten schritten tiefer in ihn hinein, und eine Anzahl stieg dann die Treppe hinauf. Alles geschah fast unhörbar; gesprochen wurde kein Wort, und auch hier mußte Jeder schon vorher seine bestimmte Ordre erhalten haben. Unten im Flur schienen zwei Mann zurückgeblieben zu sein. Ich hörte ein Knistern von Sand unmittelbar vor der Stubenthür, hinter der ich mit dem Dolmetscher stand, und einen leisen Schritt hinten am Fuße der Treppe. Der Dolmetscher und ich durften nicht wagen, laut aufzuathmen; desto schärfer konnten wir horchen. Die, welche die Treppe hinaufgestiegen waren, waren oben angelangt, man hörte nichts mehr. Sie suchten sich wohl erst zu orientiren.

Nach einer Minute wurde leise eine Thür geöffnet, dann war Alles still. Nur die Thür der Stube, in der die Verfolgten sich befunden hatten, konnte geöffnet sein; sie mußten die Stube leer finden. Was dann? Ein entscheidender Moment war eingetreten; der erste. Ich horchte mit tiefangehaltenem Athem, nicht aus Furcht vor dem Russen, der keine drei Schritt von mir stand, nur um keinen Laut da oben zu verlieren. Aber dem Pochen meines Herzens konnte ich nicht gebieten, denn es pochte in mir, daß ich meinte, der Russe müsse es jeden Augenblick hören. Sie kamen aus der Stube zurück. Im Gange oben erhob sich ein dumpfes Gemurmel. Sie hielten wohl Rath, wohin nun; sie mußten sich in dem Gange zuvor von Neuem orientiren.

Der Posten vor unserer Thür murmelte auch etwas in sich hinein; einen Fluch, wie mir der Dolmetscher nachher sagte. Dann ging er nach dem Fuße der Treppe zu. Dort sprach er leise mit seinem Cameraden. Wir konnten die Thür ein wenig mehr öffnen und freier athmen. Oben wurde wieder eine Thür aufgemacht, sehr leise.

„Welche ist es?“ fragte ich den Dolmetscher.

„Sie scheint mir links von der Treppe zu sein.“

„Also die des Assessors?“

„Ich glaube.“

Sie waren in der Stube des Assessors. Der Athem wollte mir vergehen vor Spannung. Es war wieder Alles still. Auf einmal durchfuhr ein lauter Schrei die Luft. Der Dolmetscher und ich flogen in die Höhe. Der Assessor schrie: „Hülfe! Mordio!“ Mehr konnte er nicht rufen. Was nun? Es war der zweite entscheidende Moment. Der erste war glücklich vorübergegangen. Aber die deutschen Laute! Die Russen waren in der Tbat stutzig geworden. Einer redete, wie es schien, mit dem Assessor.

„Was spricht er?“ fragte ich den Dolmetscher.

„Er fragt ihn, wo seine Frau sei, ermahnt ihn aber nicht zu schreien, er werde sonst auf der Stelle geknebelt werden.“

Der Assessor antwortete dumpf, heiser. Die Hand, die ihm den Hals zugehalten, mußte sich nur halb geöffnet haben.

„Ich bin Assessor bei der königlichen Regierung zu Gumbinnen,“ sagte er.

Er hatte ihre Frage nicht verstanden. Der arme Assessor verstand nicht polnisch und nicht russisch, und die Russen verstanden kein Deutsch. Der Russe sprach wieder mit ihm. „Er fordert ihn auf, sich nicht zu verstellen,“ dolmetschte mir der Dolmetscher. Und der Assessor? Er antwortete würdevoll: „Ich habe das Polizeidepartement hier an der Grenze. Ich werde mich über diesen Grenzexceß am geeigneten Orte zu beschweren wissen, lassen Sie mich auf der Stelle los.“

Aber der Russe polterte drauf: „Verdammter Sohn einer Hündin,“ wie der Dolmetscher übersetzte. „Du verstellst Dich. Du willst kein Polnisch verstehen, Du gottvergessener Verschwörer und Hochverräther?“

Wenn der arme, brave, loyale Assessor die Worte verstanden hätte! Er fing an zu lamentiren. Er bat, er beschwor die Russen, ihn loszulassen. Er hatte gut bitten. Sie hatten Alle gut

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