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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

sterben!“ rief sie plötzlich, und Reichardt fühlte ihre Arme fester um seinen Nacken, fühlte ihren Mund voll und heiß auf dem seinen; – als er aber, seiner Aufregung nicht mehr gebietend, seine Arme fest um ihren Leib schlingen wollte, rang sie sich mit einer plötzlichen Kraftanstrengung los und sprang auf. „Geh, Max, geh!“ rief sie, als er ihr folgte, ihm beide Arme abweisend entgegenstreckend, „unsere Wege dürfen nicht miteinander laufen!“ dann aber, wie von einem neuen Gedanken erregt, faßte sie seine beiden Hände in die ihrigen und sah ihm zwei Secunden lang tief in die Augen. „So, nun gute Nacht!“ sagte sie dann, ihn loslassend und die Thür öffnend. – Reichardt stand wie halb betäubt in dem Corridor, hörte, wie sie den Riegel vorschob, und wandte sich langsam seinem Zimmer zu.

Als am andern Morgen nach dem Erwachen die gestrige Scene wieder vor seine Seele trat, wollte sie ihm kaum anders als ein üppiger Traum erscheinen; er mußte unwillkürlich an die „schwachen Stunden“, welche ihm der Kupferschmied prophezeit, denken, und fast fürchtete er sich vor dem ersten Blicke, welchen er heute mit dem Mädchen wechseln werde. Aber umsonst sah er sich am Frühstückstische nach ihr um, und erst als er sich wieder von seinem Platze erhob, theilte ihm die Wirthin mit, daß die „Schwester“ schon früh ausgegangen sei und ihn bitten lasse, auf ihre Rückkunft zu warten. Mit einem stillen Kopfschütteln ging er nach dem Gastzimmer und versuchte den Zeitungen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden; zehnmal aber hatte er sich schon während des Lesens erhoben, weil er Mathildens leichten Tritt zu hören geglaubt, hatte endlich die Blätter weggeworfen und über die Zukunft dieses Geschwister-Verhältnisses zu grübeln begonnen, während allerhand Vorstellungen von dem, was das Mädchen so früh aus dem Hause getrieben haben könne, durch seinen Kopf schossen, und es war fast elf Uhr, als er endlich seinen Namen nennen hörte. Der Fuhrmann eines Gepäckwagens ward von der Wirthin in’s Zimmer gewiesen, der mit einem zierlich gefalteten Billet an den jungen Mann herantrat. Mit einer eigenthümlichen Spannung, die er umsonst zu beherrschen suchte, öffnete dieser das Couvert und las in kleinen, bestimmten Schriftzügen:

„Mein geliebter Bruder Max!

Unsere Wege dürfen nicht zusammen gehen, sagte ich Dir am gestrigen Abend, der nur ein schrecklicher – und doch auch ein so seliger war (es ist mir ein süßes Gefühl, Dir das jetzt frei und ohne jeden Rückhalt zu bekennen), und so habe ich nach dem Entschlusse, der sich aus einer durchkämpften Nacht entwickelt, das Band, das uns bis jetzt vereinte, kurz durchschnitten. Ich habe ein Unterkommen gefunden, und Du wirst nicht fragen: wo oder wie? – mein größter Schmerz dabei ist, daß ich Dich allein einer noch ungewissen Zukunft überlassen muß. Deinen mannigfachen Kenntnissen aber wird eine würdige Verwendung nicht lange fehlen, und wenn Du jetzt mit der Trommel anfangen müßtest, so denke daran, daß den größten Männern in diesem außergewöhnlichen Lande selten ein besserer Anfang beschieden gewesen ist.

Du wirst jedenfalls wieder von mir hören, und sollten auch Jahre dazwischen liegen; unterdessen aber, Bruder Max – schone die Herzen, die Dir vielfach freiwillig entgegenkommen werden; Du bist Dir wohl Deiner Macht über weibliche Gemüther jetzt noch nicht voll bewußt; denke aber, wenn Du es werden wirst, an das Abschiedswort Deiner Schwester, die nicht zu den Schwächsten zählte!

Und nun, als letzten Liebesdienst, sende mir durch den Ueberbringer meine Sachen, die Du fertig gepackt in meinem Zimmer finden wirst. Sage der Wirthin, ich sei Nätherin geworden, Dienstmädchen, Schenkmamsell, was Du willst; meine Erscheinung wird Dich nicht Lügen strafen. Ich weiß, Du wirst meine Bitte ehren, jetzt nicht zu forschen, was aus mir geworden, und so bewahre mir Dein Andenken, bis wir uns einmal freier wiedersehen.

Einen warmen Händedruck von
Deiner Schwester Mathilde.“ 

Der Fuhrmann hatte schon eine lange Weile ungeduldig seine Füße hören lassen, ehe Reichardt die Augen wieder von dem Papier hob und der Gegenwart inne zu werden schien. Die Stirn mit der Hand reibend suchte er die Wirthin auf, um ihr anzukündigen, daß seine Schwester eine Stelle gefunden, die sie aber sogleich festgehalten und genöthigt habe, nach ihrem Gepäck zu senden – und als dieses dem Fuhrmann überliefert war, suchte Reichardt sein Zimmer auf, um sich von Neuem in die Lectüre dieses Briefes vertiefen und seinen Gedanken ungestört nachhängen zu können. – –

Am Nachmittage ging der kleine Musiker, welcher Reichardt’s Aerger am Tage seiner Ankunft erregt, aus dem Zimmer des jungen Mannes, und dieser hatte sich verpflichtet, während der Sommermonate mit dem Alten und zweien seiner Collegen die Tanzmusik in den umliegenden kleinen Badeorten zu spielen. Es sei ein Glück für ihn, daß er noch zeitig genug zur Erkenntniß gekommen, hatte ihm der Alte gesagt, denn einen Tag später hätte er die Stelle jedenfalls durch einen Andern besetzt gefunden.




Die Glanzhöhe der Saison in Saratoga, dem eleganten Badeorte, war vorüber. Die bekanntesten fashionablen Schönheiten waren bereits unsichtbar geworden und mit ihnen der größte Theil derjenigen Familien, die nicht „mit Jedermann“ verkehren mochten und sich so, trotz aller tödtlichen Langeweile auf einen engen Umgangskreis Solcher beschränkt hatten, deren Vermögensverhältnisse sich in genauer Linie mit den ihrigen befanden. Mit dem Verschwinden der Exclusiven, ihrer bekannten Equipagen und ihrer lärmenden, ungezogenen Kinder aber schien eine ganz andere Luft in „Congreß-Hall“, dem alten, renommirten Badehotel, einzuziehen; der allgemeine Ton ward freier, die zurückgebliebene junge Damenwelt, die sich nicht vorgesehen hatte, jeden Tag in dreimal verschiedener Toilette und jeden Tag, die langen Wochen hindurch, in immer Neuem zu erscheinen, athmete auf, und zur Entschädigung für einen bereits stattgefundenen, aber nur von der Elite der Gäste besucht gewesenen Ball ward jetzt Agitation für eine ganze Reihe zwangloser Tanzunterhaltungen gemacht. Ein großer Theil der noch Anwesenden bestand aus Familien aus dem Süden, welche, später angekommen, die letzten heißen Tage hier noch zu verbringen gedachten.

Es war Nachmittags drei Uhr vorüber, die Zeit, an welcher die große, von Schlinggewächsen umsponnene Piazza vor dem Hotel, der Lieblingssammelplatz der Badegäste, am vereinsamtesten war. Wer nicht eine Spazierfahrt angetreten hatte, ruhte in voller äußerlicher Ungezwungenheit in seinem Zimmer, und nur einzelne Männergestalten, halb schlafend, halb rauchend, machten sich, in die bequemste Stellung gestreckt, hier und da auf dem langen, eleganten Vorbau sichtbar.

Nahe den Eingangsstufen saßen zwei Männer in sichtlich angelegentlichem Gespräche bei einander. Der Eine von ihnen, stets auf seinem Stuhle zurückgelehnt, trug den langen, schwarzen Rock der amerikanischen Geistlichen, während sein übriger Anzug sich dem modischen Geschmacke möglichst näherte; volles braunes Haar beschattete ein sorgfältig rasirtes Gesicht, das in diesem Augenblicke zu unbeweglichem Marmor geworden zu sein schien. Der Zweite, jünger und seinem ganzen Aeußeren nach ein Kind des Südens, hatte soeben seinen Stuhl näher zu seinem Gesellschafter gerückt.

„Sie dürfen mir in dieser Weise nicht ausweichen, Mr. Curry,“ sagte er, mit finsterm Blicke sich rasch durch das schwarze Haar fahrend. „Die Saison geht zu Ende, und meine Geduld ist es schon. Ich habe weder so viel Zeit noch überflüssige Mittel, um sie hier ohne eine bestimmte Aussicht opfern zu können, lieber gebe ich jetzt gleich eine Hoffnung ganz auf, an der ich zuletzt nur am Narrenseile gezogen werde, und wir treten uns wieder so gegenüber, wie wir es eines Tages thaten!“

Der Aeltere regte keinen Zug seines Gesichts, holte aber aus seiner Westentasche ein kleines Messer hervor, mit welchem er sich die Nägel zu putzen begann. „Ich halte es für entschieden besser, die Angelegenheiten ruhig und kalt zu betrachten,“ sagte er. „Unsere jetzige Stellung zu einander ist durchaus verschieden von jener, welche Sie soeben andeuteten –“

„Jedenfalls wird sie noch immer den nöthigen Effect ausüben!“ fuhr der junge Mann mit einem bittern Lachen auf.

Der Erstere warf einen raschen Blick nach den fernsitzenden Gästen und hob dann langsam den Kopf. „Nicht so ganz als Sie vielleicht meinen, Mr. Young,“ erwiderte er kalt. „Falls Sie indessen das Gespräch in der so eben begonnenen Weise weiter führen wollen, so erlauben Sie lieber, daß ich Sie verlasse.“

Der Jüngere sah seinem Gesellschafter eine Secunde lang in die halb verschleierten Augen. „Ich sollte wenigstens neugierig sein zu erfahren, was Sie mir noch zu sagen haben,“ versetzte er dann mit einem gedämpften, unmuthigen Lachen, „ich werde Sie also jetzt mit keinem lauten Worte in weitere Verlegenheit setzen – fahren Sie fort!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_191.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)