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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

ist, und wogegen man sich durch Processe und Processionen zu wehren suchte, während man doch jetzt wenigstens die, wenn auch unzureichende, Arbeit des Menschen dagegen in Anspruch nimmt. Es begreift sich dies auch vollkommen leicht. Der Wald, der der eigentliche Schlupfwinkel all dieses Ungeziefers ist, weicht vor der Civilisation entweder gänzlich zurück oder civilisirt sich selber: giebt es ja doch in manchen deutschen Ländern fast eben so viel Forst- und Waldschützen als Stämme im Hochwalde. Mit dem größeren Zurückweichen des Waldes aber, mit der Ausrottung der Hecken wird dem Insectenungeziefer die Zahl seiner Schlupfwinkel und Zufluchtsörter stets mehr beschnitten, und mit dem Aufhören der Brache und der Einführung einer rationellen Wechselwirthschaft das Treiben der Larven unter der Erde mehr und mehr gehemmt. Denn die seiner Zeit allgemein eingeführte Brache war so recht eine Brütezeit für die Insectenlarven, Engerlinge und Schnecken, während jetzt jedes Stürzen und Pflügen eines Ackerfeldes Tausende dieses Ungeziefers an die verderbliche Sonne oder an den Schnabel der Raben, Krähen und Dohlen bringt, die im Winter nicht auswandern und uns also von den Italienern auch nicht weggefangen werden können.

Tschudi giebt im Vorbeigehen auch einen kleinen Hieb gegen den Leipziger Lerchenfang und die thüringische Vogelstellerei, die jetzt gewiß den Vögeln wenig mehr Abbruch thut, da man von allen Seiten Klagen über ihre gänzliche Abnahme hört, während sie im Mittelalter so sehr florirte, daß man ja einen der größten deutschen Kaiser, Heinrich den Finkler, vom Vogelheerde zum Throne holen mußte. Was aber den Leipziger Lerchenfang betrifft, so wird es ebenso schwer sein, den Leuten begreiflich zu machen, daß man die Lerchen leben lassen müsse, weil sie vielleicht Würmer fressen, als man ihnen begreiflich machen wird, daß man die Schafe leben lassen müsse, weil sie Wolle geben. Trotz aller Humanität sind fette Leipziger Lerchen ein ausgezeichneter Leckerbissen, und man hat bis jetzt noch nicht gehört, daß die so fruchtbare Leipziger Ebene durch die Lerchenjagd in ihrem Ertrage Schaden gelitten habe.

In Italien geht nun freilich die Verheerung der Vögel in’s Großartige, und Tschudi hat vollkommen Recht, wenn er dagegen zu Felde zieht. Aber zur Entschuldigung muß man auch sagen, daß Gelegenheit Diebe macht und daß es schwer hält, der Versuchung zu widerstehen. Im Frühjahr kommen die Vögel aufs Aeußerste ermüdet über das Meer herüber an den Küsten an, so ermüdet, daß man die schnellen Schwalben mit Rohren aus der Luft herabschlagen und die Wachteln mit Händen greifen kann. Zur Schwalbenjagd, die ich in Nizza öfter gesehen habe, hätte ich mich freilich nicht entschließen können, aber Wachteln habe ich mit eigenen Händen manche gefangen, obgleich ich nicht gerade zu den Schnellfüßigsten gehöre. Diejenigen, welche vor einigen Jahren den Wachtelzug sahen, der sich in die Stadt Genf selbst verirrt hatte, so daß man in allen Hausgängen und Alleen todtmüde Wachteln mit den Händen griff, werden wohl begreifen, daß man solche Gelegenheiten nicht verabsäumt, sich ein leckeres Brätchen zu verschaffen. Im Herbste aber – das muß man gestehen – sind die Italiener vollkommen in ihrem Rechte, wenn sie vertilgen, was sie können, denn dann fallen alle diese Vögel, die sich bei uns im Frühjahre und Sommer von Insecten nähren, die Grasmücken und Dünnschnäbler sowohl, wie die Finken und Drosseln mit einer durch die Reise geschärften unersättlichen Freßgier über die süßen Früchte des Südens her und stopfen sich dergestalt mit Trauben, Feigen und Oliven, daß sie kaum mehr im Stande sind, einige Schritte weit zu fliegen. An der ganzen provençalisch redenden Küste, in Nizza wie in Marseille, hat man ein Sprüchwort, in dem man sagt: „besoffen wie ein Krammetsvogel“, weil man den unsichern Flug und die taumelnden Bewegungen, die von dem übermäßigen Fraße herrühren, der Trunkenheit zuschreibt, welche das Fressen von Trauben bewirken soll. Die Krammetsvögel haben zu dieser Zeit fast fingerdicken, öligen Speck auf dem ganzen Körper und die Grasmücken sehen aus, als habe man sie in Butter gewickelt. Die Feinschmecker kennen auf den ersten Blick diejenigen Vögel, die sich mit Oliven gemästet haben und begreiflicher Weise im Geschmacke den aus dem Waldgebirge stammenden Vögeln, welche würzige Beeren verschlangen, weit nachstehen. Wie kann man nun vernünftiger Weise den Italienern zumuthen, die Vögel, welche ihre Ernten zerstören, deshalb zu schonen, weil dieselben im Norden, wo andere Culturbedingungen herrschen, im Frühjahre die Insecten wegfressen!

Auch das dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen, daß die Vogeljagd in Italien seit den ältesten Zeiten geübt wurde und daß bei der damaligen unvergleichlich zahlreicheren Bevölkerung Italiens auch die Zerstörung, welche unter den Vögeln angerichtet wurde, verhältnißmäßig eine weit größere war. Die Römer schätzten den Krammetsvogel über alles andere Vogelwild,[1] sowie sie auch den Hasen allem übrigen Haarwild vorzogen, und während wir uns doch heutzutage nur begnügen, Krammetsvögel und Drosseln in Schlingen zu fangen, mästeten sie die Römer im Gegentheile und betrachteten die Anlegung eines Drosselzwingers, wie Varro und Columella (de re rustica) uns lehren, als einen eben so nothwendigen Zweig der Landwirthschaft, wie unsere heutigen Landwirthe Hühnerhöfe und Gänseställe. Lucullus soll, nach Plutarch, die Kunst des Mästens der Drosseln erfunden haben. Die Drosselzwinger waren dunkel und so gestellt, daß die Vögel weder das Feld noch den Wald sehen konnten, damit Sehnsucht und Heimweh ihrer Gemüthsruhe keinen Abbruch thäten. Man sieht also, daß die Römer ebenso gut, wie unsere jetzigen Gänsestopfer, den Einfluß dunkeler Ställe auf das Fettwerden kannten. Man mästete die Vögel mit einer Art Brei von gestoßenem Hirse und gemahlenen Feigen, welchem man Beeren von Epheu, Myrthen und Pistazien zufügte, um dem Fleische mehr Würze zu geben. Nach einer vorläufigen Behandlung in weiteren Räumen wurden die Thiere noch zwanzig Tage lang in ganz engen, dunkeln Ställen gemästet und dann erst auf den Tisch gebracht. Es gab so ungeheuer viele Drosselzwinger in der Nähe von Rom, daß die Felder mit ihrem Miste gedüngt und Ochsen und Schweine mit den Abfällen gemästet wurden.[2] Was will nun gegen eine solche Massenvertilgung der Drosseln und ähnlicher Vögel die jetzige Vogeljagd in Italien sagen! Wenn Tschudi anführt, daß in einem einzigen Districte am Langensee 60 bis 70,000 Vögel im Jahre vertilgt werden, so ist das ja wahrlich eine verschwindend kleine Zahl gegenüber den Massen, welche die alten Römer ihren Magen opferten!

Wenn also ein Uebel, welches schon seit 2000 und mehr Jahren stetig fortwirkt, erst dann merklichen Einfluß üben soll, wo es an und für sich in Abnahme begriffen ist, so scheint mir die Gefahr, die von demselben droht, nicht allzubedeutend. Die Verringerung der Vögel überhaupt, sowie insbesondere der kleinen Singvögel in unseren Gegenden mag mit durch die Vertilgung in südlichen Ländern bedingt sein, kann aber nicht einzig und allein davon herrühren. Sie liegt, wie die Verringerung des Wildes überhaupt, in weit größeren Verhältnissen, in der stets zunehmenden Cultivirung des Bodens, in der Austrocknung von Sumpf und Moor, in der Ausdehnung einer ununterbrochenen Bearbeitung des Bodens über alle Flächen, welche dem Wilde – und dazu gehören ja die Vogel auch – mehr und mehr jeglichen Zufluchtsort entzieht. Dieser fortschreitenden Cultur und diesem zwingenden, unwiderstehlichen Einflusse gegenüber halten ja selbst solche Dinge nicht Stand, deren Nutzen kein Mensch bestreitet. Das Schaf ist ohne Zweifel eines der nützlichsten Hausthiere, und abgesehen von dem Nahrungsstoffe, den es liefert, kann man dreist behaupten, daß die Civilisation in unseren gemäßigten Ländern ohne die Schafwolle ganz undenkbar wäre. Nichts destoweniger drängt die fortschreitende Cultur das Schaf als wollerzeugendes Thier nach und nach gänzlich aus unserem Welttheile hinaus und behält es nur als Fleischerzeugungsmaschine bei. Die Wollenproduction verlangt weite Flächen, Haiden, Ebenen, wo man nach dem Ausdrucke Leopold’s von Buch nichts sieht als Himmel, Barone und Schafe. Diese Bedingungen der Existenz des Schafes als Wollenthier verschwinden allmählich aus unserem Welttheile, und die Wollenerzeugung, so nothwendig sie für unser Leben auch sein mag, hat sich jetzt schon großentheils nach Australien geflüchtet. Wenn man sie also auch noch so sehr schonen und jeglichen Grund ihrer schnelleren Vertilgung soviel möglich wegräumen mag, so werden doch die wilden Vögel mehr und mehr in unserem Welttheile abnehmen, weil der Mensch vor Allem Platz für sich und sein Leben verlangt.

Tschudi hat dies auch sehr wohl gefühlt, und unter den Mitteln,

  1. Nil melius turdo – nichts Besseres, als ein Krammetsvogel, sagt Horaz in einem seiner Briefe.
  2. Ein Nachklang der römischen Einrichtungen findet sich noch jetzt, wenn auch in kleinerem Maßstabe, in einigen Gegenden Italiens. Nur mästet man jetzt Ortolane statt Drosseln. Auf einem Landhause bei Genua sah ich eine solche Ortolanen-Mästanstalt, die mit etwa 5000 Stück besetzt war und ärger stank, als ein Schweinestall.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_187.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)