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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)


„Es sind arme Leute; was sollte der Herr Assessor mit ihnen zu thun haben?“

„Also er weiß nichts von ihnen?“

„Ich kann es nicht sagen.“

„Aber weiß er vielleicht von dem, was heute Nacht hier geschehen wird?“

„Hier? Heute Nacht?“

„Hier bei Ihnen.“

„Ich weiß selbst von nichts.“

„Gut. Aber vielleicht haben Sie wohl einmal in Ihrer Jugend, in der Schule, von Leuten erzählen hören, die in die Sclaverei verkauft wurden, an die Türken, nach Fez, Marrokko, Algier?“

„In der Schule haben wir davon gehört.“

„In späteren Jahren auch wohl von den Seelenverkäufern, besonders in Holland, auch wohl in den angrenzenden deutschen Ländern?“

„In den Zeitungen wurde oft davon geredet.“

„Wurde auch von der Bestrafung solcher Seelenverkäufer geredet?“

„Ich weiß das nicht mehr.“

„So weiß ich es noch. Diejenigen, die Leute in die türkische Gefangenschaft verriethen, wurden geköpft, manchmal auch gerädert, und die Seelenverkäufer hing man an den höchsten Galgen, den man eben hatte. Denn nach den Gesetzen war und ist noch das Eine wie das Andere ein mit dem Tode zu bestrafendes Verbrechen, das Menschenraub genannt wird.“

Er war unruhig geworden. Seine Augen gingen am Boden hin und her. Ich fuhr ruhig, wie ich bisher gesprochen hatte, fort:

„Wie würden Sie es nennen, wenn Jemand Deutsche oder Polen an die Russen verkauft?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte er mit ungewisser Stimme.

„Würden Sie einen Unterschied zwischen einem solchen Burschen und jenen Sclaven- und Seelenverkäufern finden?“

Er hatte keine Antwort.

„Wer Jemanden an die Russen verkauft, der ist ebenso schlimm als ein Sclaven- und Seelenverkäufer, der Verkaufte mag ein Russe oder ein Pole oder ein Preuße oder sonst wer sein. Er ist immer ein Mensch, und wenn er hier in Preußen ist, so steht er unter dem Schutze der preußischen Gesetze, und nur nach diesen kann über ihn verfahren werden, und über diese haben nur die Behörden zu bestimmen.“

Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Antworten konnte er wieder nicht. Er stand wie das entlarvte böse Gewissen vor mir. Ich mußte rasch mit ihm fertig sein, denn ich sah es ihm an, daß er alle Kraft verloren hatte, sich ferner zu wehren.

„Sie wissen doch, daß ich Criminaldirector bin?“

„Gewiß.“

„Und auch wie das Criminalgericht mit schweren Verbrechern zu verfahren hat? “

Er konnte nicht antworten.

„Nur offene Wahrheit rettet Sie. Antworten Sie mir aus meine Fragen. Es ist der von den Russen verfolgte Graf Tomborski, der oben bei Ihnen logirt?“

„Ja,“ sagte er leise.

„Die Russen wollen ihn heute Nacht hier von Ihnen abholen?“

„Ja.“

„Der Assessor aus Gumbinnen weiß, daß der Graf hier ist?“

„Ich habe es ihm gesagt.“

„Die Russen wollen ihn dennoch heute Nacht holen?“

„Es war schon bestimmt, ehe der Assessor kam.“

„Der Assessor weiß davon?“

„Kein Wort.“

„Um welche Zeit werden die Russen kommen?“

„Sie wollten um Mitternacht hier sein.“

„Wie viel Mann?“

„Kosaken und Straßniks. Wie viele, weiß ich nicht.“

„Mit oder ohne Lärm?“

„Sie pflegen ganz in der Stille zu kommen.“

„Kennt man den Verfolgten von Person?“

„Nur nach dem Signalement.“

„Was soll nun werden, wenn sie kommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Er wußte es in der That nicht, denn er stand völlig vernichtet da.

„Kann die Gemeinde gegen sie aufgeboten werden?“

„Es würde kein Mensch kommen.“

„Können Sie sie zurückschicken?“

„Sie würden mich ebenfalls mitnehmen, wenn ich nur ein Wort spräche.“

„Es wäre am Ende das Beste für Sie. Denn wenn den Russen der Raub gelingt, dessen Mitanstifter Sie sind, so wäre Ihr Loos in Preußen nur das Beil des Henkers, und das Erste, was ich nach dem Abzuge der Russen von hier thäte, wäre, Sie zu verhaften und in meine Criminalgefängnisse zu schicken.“

Er war in unbeschreibliche Angst gerathen.

„Helfen Sie mir, retten Sie mich, Herr Criminaldirector. Um meiner armen Frau und Kinder willen.“

„Sie wenigstens verdienten es nicht. Sie wissen also kein Mittel?“

„Gar keins.“

„So thun Sie Alles, was ich Ihnen befehlen werde.“

„Befehlen Sie, Herr Criminaldirector.“

„Aber auf das Pünktlichste. Und sollten Sie mit einer Sylbe, einem Blicke, einer Bewegung den Verräther spielen wollen, Sie wären unrettbar verloren.“

„Ich werde Alles thun, was Sie von mir wollen.“

„Zunächst noch einige Fragen. Was haben Sie mit den Russen verabredet?“

„Sie werden um Mitternacht kommen, still das Haus besetzen und eindringen.“

„Die Hausthür wird offen stehen?“

„So sollte sie.“

„Sollen Sie sich zeigen?“

„Nein, kein Mensch aus dem Hause.“

„Wo sollen die Russen die Verfolgten finden?“

„Oben in der Kammer.“

„Haben Sie ihnen die Kammer bezeichnet?“

„Die zweite rechts am Gange.“

„Das ist schlimm. Aber wir müssen auf Glück rechnen. Zeigen Sie mir Ihre Räume hier unten, und dann machen Sie für mich und meinen Secretair hier in der Krugstube die Lager zurecht.“

Ich besah die unteren Räume des Hauses. Gleich hinter der Krugstube lag eine geräumige Stube, die zur Wohn- und zugleich Schlafstube für die Familie des Krügers diente. Es stand ein großes Himmelbett darin. Unmittelbar daran stieß eine kleinere Kammer, welche das Schlafgemach der älteren Kinder des Krügers war. Hinter ihr lag eine zweite Kammer, in der die Haushaltungsvorräthe, sofern sie nicht im Keller waren, verwahrt wurden. Die Krugstube lag gleich rechts an dem kleinen Flur, in den man durch die Hausthür eintrat. Zu Ende des Flurs war die Treppe, die nach oben führte. Ich erstieg sie, und sie brachte mich in einen kleinen, schmalen Gang. An diesem befanden sich drei Thüren, zwei rechts, die dritte links, ihnen gegenüber. In der zweiten Stube rechts war es still; der Graf Tomborski mit seiner Frau und seinem Kinde war darin.

Ein entsetzlich lautes Schnarchen drang durch die Thür links hervor. Die Stube war für mich bestimmt gewesen. Der Assessor Häring schlief darin. Er schlief sicher und fest, denn er schlief den Schlaf des Rausches. Den Schlaf des Gerechten? mußte ich mich fragen, während ich vor seiner Thür stehen blieb und mit Genugthuung den furchtbaren Schnarchtönen lauschte. Warum hatte er mir verschwiegen, daß er die armen Verfolgten schon hier in seiner Gewalt wußte? War es nicht auch das böse Gewissen? Eine Züchtigung hat er jedenfalls verdient. Aber jene da? mußte ich mich dann fragen, indem ich mich nach der ersten Thür rechts in dem Gange zurückwandte.

Die große, hübsche Königsberger Harfenistin Laura Lautenschlag schlief dort. Ich hörte auch ihr Schnarchen, es war nur leiser. Auch sie? Indeß, sie wollte ja über die Grenze, und sie wird ihren Vertrag schon mit den Dragonerofficieren in Georgenburg machen. – Also frisch vorwärts.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_180.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2018)