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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Er ging in die Stube der Kranken und kehrte nach kurzer Zeit tief bekümmert zurück.

„Es ist nicht möglich. Sie kann, sie darf nicht fort. Wir müssen uns in unser Schicksal ergeben. Könnten Sie vielleicht mein Kind –? Nein, nein, wie könnte ich das Kind von der Mutter trennen! Und doch! Auch das arme Kind in die ewige Gefangenschaft! O, was beginnen? – Bleiben Sie noch hier in der Nähe, mein Herr! Sie können doch noch vielleicht unser Schutzengel werden.“

„Ich bleibe hier,“ sagte ich. „Und was in meinen Kräften steht, darauf können Sie rechnen. Ich werde für Sie wachen. Wir sehen uns, wenn Gefahr droht, wieder.“

Er schied mit einem bittenden und dankenden Händedruck, zu seiner Frau zurückkehrend. Ich begab mich wieder in die Krugstube, und als ich in sie hineintrat und sah, was sich während meiner Abwesenheit darin begeben hatte, stand plötzlich ein Plan, der bisher in meinem Innern, trotz alles Grübelns, sich nicht hatte gestalten wollen, wie ein klares, lebendiges Bild vor mir, und zu allem dem Weh, das ich gehört und gesehen hatte, wollte auf einmal eine fast tolle Lust in mein Herz hineintreten.

Ich war länger als ein paar Minuten fortgewesen. Der lange Assessor hatte die Zeit benutzt; nicht er allein. Ein leeres Punschglas stand vor ihm, es war kein kleines; daß es voll gewesen und er es ganz ausgeleert hatte, zeigte mir sein Gesicht deutlich. Die grauen Falten darin waren violett geworden, und die kleinen grauen Augen leuchteten zärtlich, nicht etwa nach dem leeren Glase. Die große, hübsche Harfenistin saß neben ihm, ein halb leeres Punschglas stand vor ihr, ihre Finger rauschten einen munteren Marsch durch die Saiten ihrer Harfe; ihre Augen erwiderten die zärtlichen Blicke des Assessors. Das sah ich bei meinem Eintreten. Mein alter, kluger Dolmetscher hatte sich mit seinem Punschglase an einen Seitentisch zurückgezogen.

„Ah, Herr Director,“ rief der Assessor mir entgegen, „es ist Zeit, daß Sie kommen, der Punsch wäre sonst kalt geworden. Sie nehmen es mir doch nicht übel, daß ich ohne Sie angefangen habe? Ich war so verzweifelt durchfroren, und er ist ausgezeichnet, ich versichere Sie.“

„Daran zweifle ich keinen Augenblick,“ versicherte ich ihm, „und um es Ihnen durch die That zu beweisen –“

Er hatte mir schon ein Glas eingeschenkt und dann das seinige wieder gefüllt.

„Stoßen wir an, Herr Assessor, auf den baldigen Regierungsrath. Noch in diesem Jahre.“

„Ah, ah! Ich hoffe es.“

Die Hoffnung brachte ihn auf einmal auf andere Gedanken.

„Sie genehmigen doch, daß ich auch Ihrem Herrn Secretair eingeschenkt habe?“

„Warum hätten Sie nicht sollen?“

„Ein Subalternbeamter!“ sagte er, die Schultern in die Höhe ziehend.

Der Punsch hatte schon angefangen seine innere Natur hervorzuziehen. Er mußte schon mächtig in ihm wirken.

„Und auch dieser Dame,“ fuhr er fort, „habe ich ein Glas angeboten. Sie bat, mich mit ihrer Harfe unterhalten zu dürfen. Da war denn eine Freundlichkeit der anderen werth. Und zudem, die Schönheit macht Alles gleich. Nicht wahr, mein schönes Kind? Nun, trinken Sie einmal; geniren Sie sich nicht in unserer Gegenwart.“

Die große Person genirte sich wahrhaftig nicht. Sie that einen tüchtigen Zug aus ihrem Glase und sie sah nur um so frischer darnach aus.

„Der Assessor wird eher fertig als die,“ riefen mir die klugen Augen des alten Dolmelschers von seinem Seitentische zu.

Den Assessor aber schienen die frischen, vollen Lippen, die so behaglich den süßen Trank schlürften, mit neuer Zärtlichkeit erfüllt zu haben.

„Ah, ah, meine Schöne, lassen Sie einmal die Finger ruhen und erzählen Sie mir. Wir haben noch gar nicht mit einander gesprochen. Woher kommen Sie denn?“

„Ich bin aus Königsberg.“

„Und wie heißen Sie?“

„Laura Lautenschlag.“

„Ei, ei, ein formidabel passender Name für Sie. Und wohin wollen Sie, schöne Laura Lautenschlag?“

„Nach Rußland.“

„Um dort die Harfe zu spielen?“

„Jawohl.“

„Aber haben Sie auch einen Paß?“

„Ich habe meine preußische Concession.“

„Aber die gilt nur für Preußen. Und damit wollen Sie über die Grenze kommen?“

„Ich gehe nach Georgenburg; ich kenne die russischen Herren Officiere da.“

„Ah, dann freilich. Sonst hätte ich Ihnen meinen Schutz angeboten. Ich fahre morgen hinüber, und wenn Sie noch wollen –“

„Sie sind sehr gütig, gnädiger Herr,“ sagte Laura Lautenschlag, auf das Anerbieten eingehend.

Das, und vielleicht auch der „gnädige Herr“ entzückten den Assessor.

„Ah, stoßen wir an, mein schönes Kind. Auf eine gute Reise!“

Der Punsch konnte aus dem Innern des Assessors viel an das Tageslicht heraufholen. Er stieß mit der Person an. Dann fragte er sie: „Sie können doch auch singen, schöne Laura?“

„O, gewiß, gnädiger Herr.“

„So singen Sie einmal. Aber ein recht zärtliches Lied.“

Sie sang, und sie sang mit einer hellen, klaren Stimme nicht übel. Der Assessor hörte ihr mit neuem steigendem Entzücken zu. Aber mein Plan wollte, daß ich ihm näher kam, und zwar recht bald. Es war schon nahe an zehn Uhr, und um Mitternacht war der Ueberfall der Russen, wenn er kommen sollte, zu erwarten.

„Sie wollen also ebenfalls morgen über die Grenze?“ fragte ich ihn.

„Allerdings. In jener Angelegenheit. Ah, parbleu, wir wollten ja über den Schulzen sprechen.“

„Es hat noch Zeit. Er schläft doch schon. Waren Sie schon öfter drüben?“

„Noch nie.“

„Sie haben doch einen Paß?“

„Ich bedarf keines Passes.“

„Ei, ei! Die Russen sind eigne Leute. Kennen Sie die Geschichte des Regimentsarztes aus Tilsit?“

„Nein.“

Ich erzählte ihm die damals vielbesprochene Affaire eines preußischen Arztes, der, ohne sich mit einem Paß versehen zu haben, einen russischen Kranken in der Nähe von Georgenburg besuchte, dort als Ueberläufer angesehen, als solcher fortgeschleppt und nur durch die zufällige Dazwischenkunft des russischen Generalconsuls v. Adelson aus Königsberg gerettet wurde.

„Hm, hm,“ sagte der Assessor etwas bedenklich, als ich meine Erzählung geendigt hatte. Ich mußte ihn wieder in anderer Weise fassen.

„Indessen Sie, Herr Regierungsassessor, werden um so weniger eines Passes bedürfen, da Sie den Russen ja andere Leute zuführen, die nach dem innern des Landes geführt werden sollen.“

„Freilich, freilich.“

„Sie sprechen doch russisch?“

„Nein.“

„Auch nicht polnisch?“

„Ebenfalls nicht. Man hat keine Zeit, alle diese barbarischen Sprachen zu erlernen.“

„Es ist wahr. Aber sie können einem zu Zeiten aus der Noth helfen.“

Er war nachdenklich geworden. Großen Muth schien er nicht zu haben. Menschen, denen der Muth fehlt, greifen um so lieber nach äußeren Mitteln, sich ihn zu verschaffen oder zu ersetzen.

„Stoßen wir auf gute Geschäfte für morgen an,“ forderte ich ihn auf.

Er leerte hastig sein Glas. Die Falten seines Gesichts, die schon wieder grau geworden waren, fingen von neuem an, sich violett zu färben.

„Der Punsch ist wirklich ausgezeichnet,“ sagte ich. „Darf ich bitten, mir noch ein Glas einzuschenken?“

Er schenkte mir ein.

„Ich freue mich, daß Sie ihn gut finden.“

„Ich bedarf zudem seiner. Das Schicksal der armen Leute geht mir durch den Kopf und ich muß trinken, um mir die Sache von dem Herzen abzuwehren. – Aber Sie vergessen sich selbst doch nicht?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_178.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2020)