Seite:Die Gartenlaube (1861) 163.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Was fürchten Sie denn, Schulze?“

„Wir sind hier keine Viertelmeile von der Grenze. Wenn die Russen einen Ueberfall machten und sich die Leute mit Gewalt holten! Es wäre das erste Mal nicht.“

Auch mir wollte die Angst das Herz zuschnüren, und der Zorn wieder dabei. Der Mann hatte Recht. Derartige Einbrüche und Ueberfälle der Russen in preußisches Gebiet geschahen, und sie höhnten die Reklamationen, die von den preußischen Behörden hinterher dagegen erhoben wurden.

„Bieten Sie das Dorf zur Gegenwehr auf, Schulze!“ sagte ich.

„Es käme kein Mensch, Herr Director.“

„Sind Gensd’armen, Grenzaufseher hier?“

„Der nächste Gensd’arm ist zwei Meilen entfernt, und die beiden Grenzaufseher sind auf ihrer nächtlichen Patrouille und kommen vor morgen früh nicht zurück.“

Das war eine verzweifelte Lage. Ich wollte mir den Gedanken an den Ueberfall aus dem Kopfe schlagen.

„Aber der Russe sah Sie so boshaft an,“ sagte der Schulze.

Und daß der Krugwirth, mit dem er Winke gewechselt, ein Schuft sei, mußte ich mir sagen. Es gab mir nur keinen Rath. Der Schulze ging, und ich saß allein mit meinem Dolmetscher, welcher auch keinen Rath wußte. Wir waren unten in der Krugstube geblieben und blieben auch ferner da, denn wir waren dort dem näher, was sich noch ereignen konnte. Dem Kutscher befahl ich, draußen aufzupassen und mir namentlich zu melden, wenn Jemand in das Haus komme. Ich dachte an den Polen, den Mann der kranken Frau, den sie erwartete. Mit ihm wollte ich reden. Vor Mitternacht war eine Rückkehr und ein Ueberfall der Russen nicht zu befürchten. Ich wollte dem Polen meinen Wagen anbieten; so war ja auch die Kranke wohl fortzuschaffen.

Es war neun Uhr Abend geworden. Ich verzehrte mit dem Dolmetscher unser Abendbrod. Draußen hatte der Wind nachgelassen, aber der Regen schlug an die Fenster. Sonst war Alles still. An dem Ende des kleinen Dorfes bewegte sich in der Nacht Niemand. Und Nacht war es für die Dorfbewohner schon. Die meisten waren gewiß längst in ihren Betten. Plötzlich hörte ich durch die Stille einen Wagen heranfahren und nach wenigen Minuten vor dem Kruge halten. Ich war an das Fenster getreten und erkannte trotz der Dunkelheit eine Kutsche, die hielt.

Der Krüger war zu dem Wagen hinausgegangen, und ich hörte ihn deutsch sprechen. Eine fremde Mannsstimme antwortete ihm deutsch, doch konnte ich nur einzelne Worte verstehen, die mir keinen Sinn ihres Gesprächs ergaben. Nur meinen Namen glaubte ich ein paar Mal aussprechen zu hören.

Ein langer, hagerer Mann trat gleich darauf in die Krugstube. Er konnte erst in der Mitte der dreißiger Jahre stehen, aber nie konnte man ein faltenreicheres und in seinen grauen Falten würdevolleres und wichtigeres Gesicht sehen. Es war nur ein so vornehmer und gewichtiger Mann in ganz Litthauen, ein Mann, den jeder Litthauer kannte und nannte. Ich hatte ihn nie gesehen, aber ich kannte ihn, ich hatte von ihm gehört, und wenn das nicht der Assessor Häring war, so war der Assessor Häring eine Fabel, eine Mythe.

Er war ein Berliner Kammergerichts-Assessor gewesen, der Assessor Häring, und hatte als solcher den unwiderstehlichen Drang, den unauslöschlichen Durst in sich verspürt, ein großer Mann zu werden. Ein großer Mann war ihm ein hoher Beamter. Carriere! Das war sein einziger Gedanke. In Berlin hielt sie schwer, denn es war eine Ueberfüllung von jungen Assessoren da, die Alle von demselben großen Gedanken durchglüht waren, und – man wollte seine Talente und Verdienste nicht recht anerkennen. In die Provinz! rief es da in ihm. Berlin ist der Sitz der Intelligenz, aber auch der Verkennung. Die Provinz ist eine Wüste. Ein Mann aus Berlin ist dort Alles. Es kann mir nicht fehlen. Die größte Wüstenei ist Litthauen, da hinten an der russischen Grenze. Nach Litthauen! Er bat um eine Anstellung in Litthauen. Er wurde als Assessor bei dem Kreisgerichte in Tilsit angestellt. Es war wenig für seinen Ehrgeiz und für seine Ueberzeugung von seinem Verdienste. Es wird schon besser werden! Ich werde mich auszeichnen! tröstete er sich und er zeichnete sich aus. Kein höherer Beamter konnte nach Tilsit kommen, ohne sofort von dem Assessor Häring becomplimentirt, geführt, bedient zu werden. Das hilft. Er war nach Jahr und Tag der „ausgezeichnetste Beamte der Provinz“, ein überall gerühmter Mann. Er wurde zum Assessor bei der Regierung der Provinz in Gumbinnen befördert. Er war auf der Stufe zur höchsten Macht. Wiederum nach Jahr und Tag mußte er schon Regierungsrath sein. Es konnte nicht fehlen, zumal da er das Polizeiwesen in der Provinz zu seinem Decernat hatte. Wie sehr kann ein Beamter im Polizeiwesen sich auszeichnen!

Der Mann stand auf einmal vor mir. Es konnte kein Anderer sein. Was konnte er hier wollen, er, der das Polizeiwesen der Provinz, also auch hier an der Grenze, zu seinem Decernat hatte? Er trat würdevoll in die Krugstube ein. Ein feiner Pelz umgab die langen, hageren Glieder. Er legte ihn langsam, vorsichtig ab. Dann stand er untadelhaft gekleidet da, in schwarzem Rock, weißer Weste und weißer Halsbinde.

Die litthauischen Mädchen, für die er ebenfalls, freilich in eigenthümlicher Weise, eine Berühmtheit war, nannten ihn nicht anders, als den „schwarzweißen Storch“, weil er so entsetzlich lange Beine hatte und so gravitätisch ging. Nachdem er den Pelz abgelegt hatte, zog er ein sauberes, seidenes Taschentuch hervor, nahm seine Brille ab, putzte die Gläser mit dem Tuche, setzte die Brille wieder auf und steckte das Tuch wieder in die Tasche. Dann erst sah er sich in der Stube um, langsam, würdevoll, und als er mich erblickte, schritt er feierlich und halb herablassend und halb submiß auf mich zu.

„Herr Criminaldirector –?“

„Mein Name! Und ich habe die Ehre –?“

„Regierungsassessor Häring aus Gumbinnen. Ich bin auf einer Dienstreise hier.“

Soweit hatte ich mich also nicht getäuscht. Und war auch meine Ahnung über seinen besondern Zweck eine richtige, so wollte bei dem nähern Anblick des wichtigen Mannes auf einmal ein großer Theil meiner Sorge schwinden. Es dämmerte ein Licht vor mir auf, ich mußte es nur verfolgen.

„Ich freue mich sehr, Herr Assessor –“ sagte ich.

„Regierungsassessor!“ verbesserte er mich.

„Ich freue mich außerordentlich, Herr Regierungsassessor, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe so viel Ausgezeichnetes von Ihnen vernommen –“

„Ich bitte, Sie beschämen mich.“

„Dem Verdienste seine Anerkennung. Sie sind heute auch in einer sehr wichtigen Mission hier?“

Die Falten in seinem grauen Gesicht strahlten. Sie strahlten mir als Licht, nach dem ich suchte. Ich lud ihn ein, sich zu uns zu setzen. Er that es und nun erzählte er. Die Gesellschaft der Krugstube hatte sich unterdeß vermehrt. Eine Harfenistin war noch eingetroffen. Eine große, wie es mir schien, noch ziemlich junge und hübsche Person. Sie hatte sich aber, durchnäßt und durchfroren, hinter den Ofen zurückgezogen, und der vornehme Assessor hatte um so weniger Notiz von ihr genommen.

„Allerdings,“ erwiderte er mir, „bin ich in einer Mission hier, in einer sehr wichtigen.“

„Dürfte ich sie, wenn sie kein Amtsgeheimniß ist, erfahren?“ sagte ich.

„Sie ist durchaus kein Geheimniß. Sie wissen, ich bearbeite das Polizeidepartement bei der königlichen Regierung in Gumbinnen.“

„Gewiß weiß ich es. Die Provinz erkennt es an, daß dieser wichtige Verwaltungszweig in keinen besseren Händen sein könnte.“

„Ich gebe mir wenigstens alle Mühe. Es ist aber ein schwieriges Departement, und die meisten Schwierigkeiten erzeugt die russische und polnische Grenze.“

„Ich bin überzeugt davon.“

„So liegt heute ein Fall vor, der meine persönliche Anwesenheit hier erforderlich machte.“

„Er muß von besonderer Bedeutung sein.“

„Ja, das ist er. Es ist Ihnen unzweifelhaft nicht unbekannt, wie drüben in Polen noch immer die Elemente der Revolution nicht ganz niedergeschlagen sind.“

„Ich denke, es ist die Ruhe des Grabes in dem Lande.“

„Bitte um Verzeihung. Wir haben bei der königlichen Regierung ganz andere Nachrichten. Die Revolution ist nur im Großen und Ganzen besiegt. Die Ruhe herrscht nur äußerlich. Im Verborgenen giebt es der Wühler noch immer leider zu viele, und das Beginnen dieser conspirirenden Umsturzpartei ist um so verwerflicher, empörender und für das im Ganzen und Großen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_163.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)