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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

mögen; that doch Jeder, als habe er nur die Aufgabe, genau zu ergründen, was ich sei und habe, oder als komme ich ihm gerade recht zur Vertreibung seiner Langeweile.“ –

„Ich glaube, Sie sind nicht ganz gerecht, Fräulein Mathilde,“ erwiderte der junge Mann lächelnd. „Mochte auch die Neugierde ihr Theil zu thun haben, so war doch Ihre ganze Erscheinung so abstechend von den Uebrigen, und – ich will jetzt nicht anfangen Schönheiten zu sagen –“

Sie hatte während des Sprechens den Handschuh von ihren Fingern gezupft. „Nein, um Gotteswillen nicht, wenn ich weiter zu Ihnen reden soll; lassen Sie mir den Glauben, daß Sie nicht sind, wie die Andern,“ unterbrach sie ihn und streckte ihm von Neuem die Hand entgegen. Reichardt sah in ein Auge, das im vollen, bittenden Vertrauen ihn anblickte, er fühlte den Druck dieser weichen, zierlichen Finger und hätte in diesem Augenblicke auch das halb Unmögliche zugesagt.

„Sprechen Sie, Fräulein, sprechen Sie und denken Sie, daß Sie neben einem Bruder säßen,“ sagte er, und in seinem Händedrucke, wie in seinem Tone sprach sich Alles aus, was er nur hätte sagen mögen.

„Es ist mit einigen Worten gethan, Sie mußten es zum Verständniß unserer vielleicht längern Fahrt wissen,“ erwiderte sie. „Ich habe in New-York nur einen einzigen Anhalt, einen Bruder meiner Mutter – ob er aber noch da ist, wohin mich die Adresse, die schon einige Zeit alt ist, weist, ist eine Frage, die mich während der ganzen langen Reise gepeinigt hat – und doch habe ich diese auf jede Gefahr hin antreten müssen. Finde ich ihn nicht sogleich, so muß ich weiter suchen, und Gott gebe dann nur, daß ich schnell den rechten Weg finde.“

„Und weiß er nicht, daß Sie kommen werden?“ fragte ihr Begleiter, „haben Sie ihm nicht vorher geschrieben?“

„Ich habe geschrieben, einmal vor vier Monaten, aber ohne Antwort zu erhalten, und das zweite Mal bei meiner Abreise!“ erwiderte sie, die Augen nach ihm aufschlagend, als wolle sie Hoffnung oder Furcht aus seinen Mienen schöpfen.

Reichardt nahm seinen Hut ab und fuhr mit den Fingern durch das reiche Haar. „Wir werden ja sehen – Briefe gehen eher verloren als Menschen,“ sagte er. „Jedenfalls aber,“ setzte er mit einem hellen Blicke hinzu, „rechnen Sie auf mich, Fräulein, soweit Sie nur von meinen Kräften Gebrauch machen wollen.“

„Ich danke Ihnen!“ versetzte sie mit einem tiefen Athemzuge, wandte dann aber, als wolle sie seinem Blicke ausweichen, das Auge nach der belebten Straße.

Nur einige Minuten noch waren sie schweigend weiter gefahren, als der Wagen hielt, der Kutscher vom Bock sprang und den Schlag öffnete. „Dies ist der Platz!“ sagte er nach einem Hause zeigend, dessen Thür auf schwarzlackirtem Blech die Worte „Private Boarding“ zeigte. Reichardt sprang auf die Straße, hob seine Begleiterin aus dem Wagen und gebot dem Kutscher zu warten. Als er die Klingel zog, fühlte er den Arm des Mädchens in dem seinen zittern.

„Wohnt ein Mr. Jung hier im Hause?“ fragte er, sein Englisch bestens aufstutzend, das Dienstmädchen, welches die Thür öffnete. Die Befragte überflog erst das Aeußere des Paares und sagte dann, sie wisse es nicht, sie wolle Mistreß fragen, Beide möchten so lange in den Parlour treten.

Es dauerte eine kurze Weile, in welcher Mathilde, ohne sich niederzusetzen, die Augen starr auf die offene Thür gerichtet hielt, bis die Gerufene erschien und Reichardt seine Frage wiederholen konnte. Die Hauseigenthümerin schien nachzudenken. „Mr. Jung,“ begann sie endlich langsam, während des Mädchens Augen jedes Wort aus ihrem Munde, von dem sie doch keins verstand, aufzufangen schien, „das war der deutsche Gentleman, ich besinne mich; er bekam, wohl sechs Monate zurück, die Pocken, wurde in’s Hospital geschafft und starb dort.“

Reichardt fühlte bei der kurzen, gleichgültig gegebenen Nachricht selbst wie eine Art Stich im Herzen, und er mußte seine ganze Herrschaft über sich wach rufen, um dem Mädchen, welches in Erwartung der deutschen Übersetzung den Blick nach ihm gewandt, nicht die Wahrheit auf einmal zu verrathen. „Hier ist er nicht mehr, kommen Sie, Fräulein, wir sprechen im Wagen weiter!“ sagte er; aber in diesem Augenblick sah er, wie eine tiefe Blässe ihr Gesicht überlief und fühlte ihre Hand an seinem Arme, als wolle sie sich daran festhalten. „Sagen Sie mir gleich Alles,“ sprach sie in sichtlicher Anstrengung, ihre Schwäche zu überwinden, „es ist besser für mich, glauben Sie mir!“

„Sie geben der jungen Dame wohl ein Glas kaltes Wasser!“ wandte sich Reichardt besorgt nach der Wirthin. „Sie ist die nächste Verwandte des Mr. Jung, und eben erst von Europa angelangt, um ihn hier zu finden!“ und als die Angeredete mit einem bedauernden Kopfschütteln davon geeilt war, führte er das Mädchen nach dem Sopha. „Fassen Sie sich, Fräulein Mathilde,“ sagte er, ihre beiden Hände ergreifend, „denken Sie, daß Sie einen Bruder in mir haben sollen, wenn Sie ihn nur annehmen, der alle seine Kräfte für Sie bereit hat.“

„Sagen Sie mir nur das Eine – ist er todt?“

„Er ist todt, bereits seit sechs Monaten!“

Sie sah eine kurze Weile, ohne zu sprechen, vor sich hin und erhob sich dann, trank das ihr entgegengebrachte Wasser und schritt mit einem leichten Gruße, dem jungen Mann voran, zur Thür hinaus; als der letztere indessen den Wagenschlag öffnete, um ihr in den innern Raum zu helfen, blieb sie stehen und fragte mit einem rathlosen Blicke: „Wohin aber nun?“

„Das findet sich, jetzt kommen Sie nur!“ erwiderte er, rief dem Kutscher zu, nach dem Hafen zu fahren, wo sie eingestiegen, und bald saßen sich Beide wieder einander gegenüber. „Sie sagen, Fräulein, es war Ihr einziger Anhalt, welchen Sie in Amerika hatten?“ begann er in ihr ängstlich erwartendes Gesicht blickend.

„Ich habe Niemanden weiter – auch des Onkels, den ich hier suchte, erinnere ich mich nur aus meinen Kinderjahren; aber ich weiß, daß ich eine so sichere Stütze an ihm gehabt hätte, als ich jetzt rath- und hülflos in der fremden Stadt stehe.“

Reichardt sah eine Secunde lang vor sich nieder. „Ich habe keinen Begriff von den Ansprüchen, welche Sie hier an das Leben machen –“ sagte er langsam wieder aufblickend.

„Ansprüche?“ erwiderte sie wie verwundert, „ich will jetzt gern für den Unterhalt meines Lebens arbeiten, wenn ich nur dafür Gelegenheit und den nöthigen Schutz finde – das ist Alles –“

„Gut, Fräulein, so sind Sie um kein Haar schlimmer daran als ich selbst, und ich sehe nirgends eine Ursache zu Sorge und Bangigkeit,“ erwiderte er, sich gerade aufsetzend. „Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihr Bruder sein werde; wollen Sie mich dazu annehmen, so nehmen Sie mein ehrliches Wort, daß ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde, geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie unsere Schicksale zusammenwerfen. Geschwisterpaare, die hier ankommen, sind etwas Gewöhnliches und Niemand wird ein Arg hegen – nehmen Sie meinen Vorschlag wenigstens so lange an,“ setzte er hinzu, als er ein hohes Roth in des Mädchens Gesicht treten und eine eigenthümliche Befangenheit sich über ihre Züge verbreiten sah, die ihn fast selbst aus seiner Sicherheit brachte, „bis irgend eine Gelegenheit Ihnen einen bessern Schutz verschafft – es muß ja nun einmal jedes Verhältniß der Welt gegenüber einen Namen haben –“ in Mathildens Gesicht begann aber schon ein hellaufsteigendes Lächeln jeden andern Ausdruck zu verdrängen, ihr Auge glänzte auf, und wie einen Entschluß in sich zu Ende bringend, legte sie langsam ihre Hand in die Reichardt’s. „Es ist gut, ich will Ihre Schwester sein,“ sagte sie mit dem vollen Klange ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme, „ich breche mit Allem, was hinter mir liegt, und bilde mir meine eigene Zukunft – ich werde Ihnen nicht zur Last fallen, sobald ich nur im Stande sein werde, einen freien Blick über dies Meer von Häusern und Menschen zu gewinnen –“

„Zur Last oder nicht – Alles gemeinschaftlich und gegenseitig,“ erwiderte der junge Mann, ihre Hand festhaltend, „zuvörderst habe ich selbst noch keine Beschäftigung; für einige Zeit ist indessen gesorgt, und dann getheiltes Glück oder getheiltes Leid, wie das Schicksal will. Aber etwas Anderes!“ fuhr er angeregt fort, „wenn wir auch Stiefgeschwister mit verschiedenen Namen sind, muß doch das geschwisterliche Du zwischen uns herrschen, und der nöthigen Uebung halber sollten wir wohl gleich damit beginnen!“

Wieder wollte das frühere Roth in ihrem Gesichte aufsteigen, wurde aber im Entstehen von ihr bemeistert. „Nennen Sie mir Ihren vollen Namen!“ sagte sie ruhig.

„Max Reichardt.“

„Gut, Max, nun sei mein rechtschaffener Bruder!“

„Du sollst mit ihm zufrieden sein, Mathilde!“

Zwei Secunden noch hingen die Augen Beider wie unbewußt

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