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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Gebote, das da lautet: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Andere Alles zu Theil werden!“ – Dieses „Reich Gottes“ aber ist kein anderes als das Reich der Humanitätsidee, der Bildung zu Freiheit, Schönheit und Wahrheit. Und ein Prophet, ein sieghafter König und Mehrer dieses Reichs Gottes auf Erden, ist uns der Mann, der heute vor hundertzweiunddreißig Jahren unserem Volke und der ganzen Menschheit geboren ward, ist Gotthold Ephraim Lessing, dessen Geburtsfest wir heute in der Stadt, welche die ersten Blüthen seines Geistes sich erschließen sah, in feierlicher Bewegung festlich begehen.

Ja, feierlich bewegt im innersten Herzen muß sich jeder Deutsche empfinden, der heute zurückblickt auf das, was Deutschland und die deutsche Cultur waren in der Zeit, als in der ärmsten der Sechsstädte jener kleinen Provinz, an die für ewig der unsterbliche Name Lessing’s geknüpft ist, in dem armseligen Pfarrhause zu Camenz der Erneuerer des deutschen Geisteslebens geboren ward!

Der Beginn des achtzehnten Jahrhunderts fand in Deutschland ein Volk vor, dem seine große geschichtliche Vergangenheit und das Bewußtsein nationalen Zusammenhangs fremd geworden, dem jede Kraft eines starken Gemeingefühls abhanden gekommen, dem jeder Zusammenhang mit seiner früheren selbstständigen Cultur und damit jedes selbstbewußte Gefühl des eignen Werthes verloren gegangen war. Durch einen dreißigjährigen Religionskrieg waren Wohlstand und Bildung um Jahrhunderte zurückgeworfen worden. Getheilt in unzählige Territorien, belastet von dem Joche eines despotischen Fürsten- und Beamtenregiments, dessen Unkraut auf der wüsten Kriegesbrandstätte wuchernd aufgeschossen war, erscheint das deutsche Volk jener Zeit – verlustig seines einstigen großen historischen Charakters und seiner alten Kernhaftigkeit, verlustig seiner früheren eigenartigen Cultur und Literatur – als ein Volk von Philistern, beschränkt in seinem Leben, verknöchert in seinen Ansichten und Begriffen, verkommen in seiner Literatur wie in seinem ganzen Dasein, auf geistigem Gebiete ebensowenig wie auf dem politischen mitzählend unter den Culturnationen Europas. Spielball und Affe zugleich des Auslandes, ward es gering geachtet, ja verachtet selbst von denjenigen, die es als seine Muster und Vorbilder blind bewunderte und verehrte. Ob ein Deutscher Geist haben könne? war eine Frage, die jenseit des Rheins noch mit entschiedenem Nein! beantwortet wurde, als Lessing bereits in Leipzig seine ersten Flügelschläge versuchte. Der größte König des Jahrhunderts, Preußens Friedrich II., fand keine Literatur in seiner Nation vor, an der sich seine geniale Jugend hätte erwärmen mögen. Denn was konnte ihm eine Literatur bieten, in welcher die „Dichtungen“ eines Gottsched und seiner Jünger als Meisterwerke galten, und eine Sprache, die in ihrer kanzleitrocknen Steifheit und Pedanterie, lächerlich aufgeschnörkelt mit lateinischen und französischen Brocken, nur ein Bild der Verzerrung und des Ungeschmacks darbot? War es zu verwundern, daß seine Jugend sich abwandte von dieser Literatur und dieser Sprache, den Erzeugnissen eines verkommenen und in sich verknöcherten Daseins, in welchem alles ursprünglich eigne Leben erstorben war, wo auf allen Lebensgebieten hergebrachte, theils veraltete, theils fremde Formen despotisch herrschten, jeden lebendigen Trieb und Keim in der Geburt erstickend und dem ganzen Dasein der Nation das uniforme Gepräge eines langweiligen, bezopften und bepuderten Philisterthums aufdrückend?

Und nun – blicken wir aus jenen Tagen, wo der Studiosus Lessing in den Mauern dieser Stadt weilte, nur fünfzig[WS 1] Jahre vorwärts, und wir sehen diese klägliche Gestalt des deutschen Geisteslebens wie mit einem Zauberschlage geändert. Eine Revolution war vollbracht worden in diesem deutschen Geistesleben, wie die Welt kaum eine zweite gesehen, und beispiellos wie sein Fall war auch die Erhebung des deutschen Geistes. Noch war das letzte Jahr des achtzehnten Jahrhunderts nicht abgelaufen, da zählte das verachtete Deutschland bereits wieder geistig mit unter den Culturnationen Europa’s; da hatte es die Fesseln der geistigen Fremdherrschaft zerbrochen, hatte es aus ureignem Geiste eine neue Nationalliteratur und in den Werken derselben eine Sprache geschaffen, welche, an Adel und Würde und Vielseitigkeit des Ausdrucks keiner andern nachstehend, an Bildungsfähigkeit und Schmiegsamkeit im Wiedergeben fremder Geisteserzeugnisse allen voran stand; hatte es endlich seine gesammte Denkart emporgehoben zu den Idealen freier und schöner Humanität und im Gebiete des Gedankens mit kühnem Fluge eine Höhe der Freiheit erreicht, zu der noch heute die andern Nationen verehrend emporblicken.

Ja, eine Revolution war vollbracht worden in dem deutschen Geistesleben, und an der Spitze dieser glorreichsten aller Revolutionen steht Lessing da, Lessing, „das Revolutionsgenie“, wie ihn der Geschichtsschreiber der deutschen Nationalliteratur genannt hat; Lessing, der Pfadfinder des Geistes, der durch das wuchernde Gestrüpp und Schlingkraut dessen, was damals deutsche Literatur und Dichtung hieß, mit scharfer Sichel nach allen Seiten freie Pfade öffnete und die Merk- und Richtsteine setzte für die nach ihm Kommenden; der den Despotismus der französischen Geschmacksregel niederwarf und die ewigen Gesetze der Natur und Wahrheit an ihre Stelle setzte; der den Deutschen das Alterthum und Shakespeare erschloß und ihnen die Wissenschaft vom Schönen – die Aesthetik – und die Wissenschaft der Erkenntniß des Wahren und Falschen – die Kritik – neu erschuf, und beide durch Schöpfungen erläuterte und bewährte, die noch heute die Freude Aller und der Stolz unserer Literatur sind; der endlich, wie durch Wort und Schrift, so durch Leben und Beispiel alle Pedanterie und unfruchtbare Schulgelehrtheit, alle Engherzigkeit und Philisterei, alle Unfreiheit und knechtische Gesinnung, alle religiöse Unduldsamkeit und theologischen Zelotismus, so wie alle Halbheit liberaler Vermittlung mit dem siegreichen Schwerte seines Geistes bekämpfte, und so auf allen Gebieten die Deutschen mit seiner starken Hand emporriß aus ihrer Schlaftrunkenheit und schlaffen Selbstgefälligkeit zum Bewußtsein ihrer schlummernden Kräfte und ihrer geschichtlichen Aufgabe. –

So steht Lessing an der Spitze der Epoche unserer geistigen Wiedergeburt, und sein Name ist es, nach dem sie für immer genannt werden wird. Und wenn das alte hellenische Wort wahr ist, das den schweren Anfang die Hälfte und mehr als die Hälfte des Ganzen nennt, so wird keine Geschichtsschreibung unseres nationalen Lebens Lessing jene Ehre versagen können. Wohl strahlen Goethe’s und Schiller’s Namen mit hellerem Glanze in der Geschichte des deutschen Geistes und der deutschen Literatur. Aber ohne Lessing, als dessen siegreiche Epigonen sie dastehen, – welche Kräfte hätten sie verschwenden müssen, um nur die Stätte zu gewinnen, die Lessing ihnen mit seiner Arbeit bereitet hatte! Sie waren die Glücklicheren, denen es beschieden war, in die noch frischen Furchen, die er mit scharfem Pfluge in dem verwilderten Boden aufgerissen hatte, die goldene Saat ihres Wirkens und Schaffens säen zu können! Daß aber diesen Heroen ein glückliches Geschick einen Lessing als Vorläufer sendete, der die Nation emporhob aus ihrer mehr als hundertjährigen Verdumpfung und Versunkenheit, das war zugleich das größte Glück, welches unserem Volke seit langen Zeiten widerfahren war. –

Der große Beweger seines Volkes hatte keinen ihm ebenbürtigen Bundes- und Arbeitsgenossen unter den literarischen Männern seiner Zeit, und es gab Stunden, wo das Bewußtsein seiner Vereinsamung schwer auf dem Starken lastete. Wohl aber hatte er einen solchen an dem großen Herrscher, dessen Name bisher in der Schilderung von Lessing’s Lebensgange und Schicksalen nur mit Schmerz von dem Biographen genannt worden ist, mit Schmerz darüber, daß der große preußische Friedrich den einzigen Mann nicht beachtete, nicht erkannte, der unter seinen Augen gleich große, ja größere Thaten vollführte, als er selbst auf der Höhe seines Thrones und an der Spitze seiner Heere; daß er es verschmähte, den Mann zu dem Seinen zu machen, den er allein von allen Herrschern Europa’s den Seinen zu nennen würdig gewesen wäre. Aber dennoch war Friedrich II., wenn auch ohne es zu wissen, ein geistiger Bundesgenosse und Mithelfer Lessing’s an dem Werke der Erweckung und Erhebung des deutschen Geistes. Lassen Sie mich bei dieser Betrachtung einige Augenblicke verweilen.

Die Männer, welche Ihrer Stadt diese Lessingfeier geschaffen haben – welche in allen Städten unseres Vaterlandes Nachahmung zu finden verdiente, haben mir, indem sie mich würdig achteten, bei dieser Feier den Manen des Unsterblichen die schwache Huldigung meines Wortes darzubringen, die höchste Ehre erzeigt, welche freie Männer allein einem freien Manne erweisen können; denn Ehre kommt jedem nur von Seinesgleichen. Und indem sie an mich, den preußischen Deutschen, diese Ehrenaufforderung ergehen ließen, schienen sie mir zugleich Anlaß und Berechtigung zu geben, den Namen des größten Preußenkönigs zusammenzurücken mit dem Namen des größten sächsischen Geisteshelden. Gestatten

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fünzig
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_122.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)