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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

preußischen Auditeuren, die ich kennen gelernt, keinen gefunden habe, der seiner schwierigen Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Der „verehrte Herr“ betrachtete sich lediglich als Inquisitionsrichter und Ankläger. Er hielt jeden Angeschuldigten, wie das bei dem Inquisitionsverfahren so häufig der Fall ist, von vorn herein für einen Verbrecher und erkannte seine Aufgabe darin, möglichst viel aus den Angeschuldigten heraus und in sie hinein zu inquiriren und Alles, was ihm in die Hände fiel, wo möglich zu spießen, zu köpfen oder zu hängen. Mancher arme Teufel, der nichts verbrochen hatte, hat Monate lang in Untersuchungshaft sitzen müssen, blos damit der „verehrte Herr“ sein Inquisitionstalent an ihm üben konnte.

Alle Vergehen und Verbrechen preußischer Soldaten, Officiere und Militairbeamten, welcher Natur sie auch sein mochten, wurden ausschließlich von Militärgerichten abgeurtheilt. Für diejenigen Mitglieder der Armee, welche nicht Officierrang hatten, gab es zwei Classen von Gerichten, Standgerichte und Kriegsgerichte, für Officiere und ihnen im Range gleichstehende Militairbeamten nur Kriegsgerichte. Das Standgericht bestand aus je zwei Mitgliedern jeder Charge, von der des Angeklagten an aufwärts bis zu der des Oberlieutenants einschließlich, und hatte einen Capitain zum Präsidenten, das Kriegsgericht für Soldaten und Unterofficiere aus je drei Mitgliedern jeder Charge bis zu der des Capitains einschließlich, mit einem Major als Präsidenten. Kriegsgerichte für Officiere waren in derselben Art, wie die für Soldaten und Unterofficiere, zusammengesetzt und standen, je nach der Rangstufe des Angeklagten, unter Vorsitz eines Stabsofficiers oder Generals.

Die Standgerichte hatten über geringere Vergehen abzuurtheilen, deren höchstes Strafmaß nicht über die verschiedenen Classen des Militairarrestes – es gab gelinden, Mittel- und strengen Arrest – und dessen längst vom Gesetz erlaubte Dauer hinausging, die Kriegsgerichte über alle schwereren Vergehen und Verbrechen. Die Präsidenten und Beisitzer dieser Gerichtshöfe wurden von den „Gerichtsherren“ – je nach Umständen die Regimentscommandeure, Divisionsgenerale oder Festungscommandanten –, denen auch die Bestätigung des Urtheils oblag, oder vielmehr von deren Adjutanten für jeden einzelnen Fall commandirt.

Das Gerichtsverfahren war folgendes. Nachdem der Auditeur die inquisitorische Untersuchung geschlossen, rapportirte er darüber dem Gerichtsherrn, worauf dieser je nach Umständen ein Stand- oder Kriegsgericht verordnete. War das Gericht versammelt, so vereidigte der Auditeur die Richter und las in Gegenwart des Angeklagten die Untersuchungsacten vor. Der Präsident richtete dann nach einem alten Herkommen an den Angeklagten die Frage, ob er noch etwas zu seiner Vertheidigung anzuführen habe. Es läßt sich leicht denken, daß von diesem beschränkten Vertheidigungsrecht, und ein anderes existirte nicht, bei der Unfähigkeit der meisten Angeklagten, eine Rede zu halten, bei ihrer Unkenntniß der Acten und dem gänzlichen Mangel an Vorbereitung fast nie Gebrauch gemacht wurde. Ich habe manchen Stand- und Kriegsgerichten beigewohnt, habe aber nur ein einziges Mal erlebt, daß ein Angeschuldigter sich der Vertheidigungs-Erlaubniß bediente. Der Fall war dieser: Ein liederlicher Kanonier hatte seine Schuhe an einen Cameraden verkauft und den Erlös verjubelt. Er wurde deshalb zur Untersuchung gezogen und auf Grund eines Paragraphen der „Kriegsartikel“, wie das preußische Militair-Strafgesetzbuch genannt wurde, verurtheilt. Der untersuchende Auditeur – es war nicht der „verehrte Herr“ – wußte aus dem preußischen Landrecht, welches für den Soldaten ebenfalls Gültigkeit hatte, so weit es den Kriegsartikeln nicht widersprach, daß, wo ein strafbarer Verkauf vorliegt, in vielen Fällen auch der Kauf strafbar ist. Er zog deshalb den Käufer der Schuhe ebenfalls zur Untersuchung. Als derselbe nach Vorlesung der Acten von dem Präses des Standgerichts in üblicher Weise gefragt wurde, ob er noch etwas zu seiner Vertheidigung anzuführen habe, erwiderte er: „Ja, Herr Hauptmann, ich habe ja nicht gewußt, daß ich die Schuhe nicht kaufen durfte; er sagte mir, er brauchte sie nicht, und ich hatte sie verdammt nöthig.“ Der Angeklagte wurde nach dieser kunstlosen Rede freigesprochen, obschon der Auditeur ihm gern einige Wochen Arrest anhängen wollte.

Hatte nun der Angeklagte entweder seine Vertheidigungsrede gehalten oder nichts zu seiner Vertheidigung anzuführen gewußt, so wurde er wieder in Arrest gebracht, und der Auditeur hielt dann seinen Vortrag über den Inhalt der Acten, gab sein Gutachten über Schuld oder Unschuld ab, las die nach seiner Meinung anwendbaren Paragraphen der „Kriegsartikel“ oder des „Landrechts“ vor und stellte seinen Antrag auf Freisprechung oder auf diese oder jene Strafe. In den meisten Fällen wurden die Anträge der Auditeure angenommen, wenn sie nicht gar zu sehr der gesunden Vernunft Hohn sprachen. Die verschiedenen Richterclassen, das heißt, die Mitglieder einer jeden in dem Stand- oder Kriegsgericht vertretenen Charge mußten hierauf unter einander berathen, die Officiere im Gerichtszimmer, Unterofficiere und Gemeine draußen auf dem Flur, auf der Treppe, oder wo sie sonst einen Winkel fanden, und nach beendigter Berathung classenweise ihr Votum abgeben, von der niedrigsten Classe anfangend. Berathungen der verschiedenen Classen mit einander waren verboten; dissentirende Vota innerhalb der Classen waren zwar erlaubt, wurden aber höchst ungern gesehen. Der Auditeur bildete dann aus allen diesen Voten das Urtheil. Stimmte eine Mehrheit für Freisprechung, so wurde der Angeschuldigte freigesprochen; stimmte eine Mehrheit für Bestrafung, so wurde er bestraft. Als Maß der Strafe galt das arithmetische Mittel aus den bisweilen sehr abweichenden Abstimmungen der Classen.

Ich kehre nach dieser nothwendigen Auseinandersetzung zu unserm „verehrten Herrn“ und seinen Thaten zurück. Eines Tages stand ein Bombardier vor dem Kriegsgericht, gegen welchen der „verehrte Herr“ eine Anklage auf „Diebstahl unter erschwerenden Umständen“ erhoben hatte. Der Angeklagte war ein hübscher, junger Bursche, kaum siebenzehn Jahre alt, mit offenen, einnehmenden Zügen, aus denen Niemand den Dieb herausgelesen hätte. Seine Vorgesetzten gaben ihm das beste Zeugniß. Der Thatbestand war den Acten gemäß dieser. Bombardier Frei war zu dem Dienst des Wallpatrouillirens commandirt und hatte sich während der vierundzwanzigstündigen Dauer dieses Dienstes, in so weit er nicht auf den Wällen sein mußte, auf der nächsten Thorwache aufzuhalten. Gegen Abend kam ein Bauer mit einem Tragkorbe voll Waaren, die er am folgenden Tage zu Markte bringen wollte, zu dem wachthabenden Unterofficier und bat ihn um Erlaubniß, den Korb bis zum nächsten Morgen in die Wachtstube stellen zu dürfen. Die Stadt K. hatte damals nämlich Schlacht- und Mahlsteuer, so daß Nichts ohne Visitation einpassiren durfte, und der Bauer hatte nicht Zeit, auf die Rückkehr des gerade abwesenden Zöllners zu warten. Der Unterofficier der Wache erklärte ihm, er könne den Korb nicht unter seine Obhut nehmen, habe aber nichts dagegen, daß derselbe im Vorhaus des Wachlocals hingestellt werde. Dies that der Bauer, da er seine Waare dort für vollkommen sicher hielt. Während der Nacht machte der Bombardier Frei einigen Soldaten der Wache den Vorschlag, dem Bauer einen Possen zu spielen. Unter dem Inhalte des Tragekorbes war ein Topf mit Butter. Diese Butter sollte herausgenommen, der Topf dann mit Asche gefüllt und die Asche mit einer Lage Butter bedeckt werden. Der Streich wurde so ausgeführt, und die Soldaten ließen sich die Butter zu ihrem Commißbrod wohlschmecken. Am nächsten Morgen holte der Bauer seinen Korb ab und trabte damit, nichts Böses ahnend, wohlgemuth zu Markte. Dem Bombardier, der nicht die Absicht gehabt hatte, dem Bauer Schaden zuzufügen, wurde jetzt angst und bange wegen der möglichen Folgen seines Streiches.

Er eilte so schnell, als sein Dienst es ihm erlaubte, zum Markte hin, um den Bauer aufzusuchen. Dort angekommen, erfuhr er, daß der Posten entdeckt worden und der Bauer zum Commandanten gegangen sei, um Klage gegen die Butterdiebe zu führen. Bombardier Frei verfolgte seine Spur, und es gelang ihm endlich nach vielem vergeblichem Hin- und Herlaufen, den Gesuchten aufzufinden, worauf er ihm sofort den doppelten Werth seiner Butter bezahlte. Aber diese Sühnung kam zu spät: die Klage war einmal anhängig gemacht, und der Proceß nahm seinen Gang, trotzdem der Bauer wieder zum Commandanten hinlief, sich für vollständig befriedigt erklärte und um Niederschlagung der Untersuchung bat.

Auf diesen Thatbestand nun gründete der „verehrte Herr“ den Antrag, den Bombardier Frei wegen „Diebstahls unter erschwerenden Umständen“ zur Degration zum Gemeinen, zur Versetzung in die zur Prügelstrafe unterworfene „zweite Classe“ des Soldatenstandes und zu dreimonatlicher Einstellung in eine Strafsection zu verurtheileu. Die meisten Mitglieder des Kriegsgerichts fühlten auf der Stelle, daß eine solche Verurtheilung eine empörende Ungerechtigkeit sein würde. Die Ober- und Unterlieutenantsclasse einigten sich ohne Schwierigkeit dahin, daß von dem Verbrechen

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