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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Sie stellen einen ganz neuen Gesichtspunkt auf!“ bemerkte ich, angeregt durch den parlamentarischen Pädagogen, „bitte, erklären Sie sich etwas näher, in welchen Punkten sind Sie besonders mit den Landboten unzufrieden?“

„In welchen Punkten? in allen, sage ich Ihnen; nehmen Sie ja nicht diese Herren in Schutz! Aber ich will Ihnen die Sache ausführlicher erörtern. Zuerst bin ich als Schulmann im Punkte ihres principiellen Schwänzens sehr unzufrieden. Wann ist diese Versammlung von einigen hundert Männern jemals vollzählig? Es findet keine Sitzung statt, daß nicht dieser oder jener, wie hinter die Schule, hinter das Parlament ginge. Sobald ein Abgeordneter sich durch seine Abstimmung mißliebig bei seinen Wählern zu machen fürchtet, überfällt ihn eine Sitzungskrankheit, er legt sich zu Bette, schreibt einen Entschuldigungszettel an den Präsidenten und bleibt, wenn der Fall bedenklich ist und die Wähler zu Hause ihn schon im Verdachte haben, acht bis vierzehn Tage auf dem Sopha liegen.“

„Was ist aber dagegen zu thun?“

„Nichts leichter als das, mein Lieber. Man braucht nur, gleich dem ersten besten vereidigten Theaterarzte, einen Parlamentsarzt, einen alten Praktikus zu halten, der über alle kleinlichen Finten und Bestechungen durch Schmeichelei erhaben ist. Meldet sich ein Abgeordneter krank, so stattet er ihm einen Besuch und dem Präsidenten ein Gutachten ab. Verstellt sich aber der Landbote, so werden ihm für jeden Tag der fingirten Krankheit die Diäten von drei Thalern abgezogen. Das hilft; ich kenne meine Landsleute. Als das Parlament unter Brandenburg und Manteuffel außerhalb Berlin, nach dem märkischen Kremsier, verlegt wurde, fuhren ihm selbst die Männer vom linken Centrum, nur der Diäten wegen, auf der Eisenbahn nach.“

„Das hieße ja aber unsere Abgeordneten wie Schulknaben behandeln!“ sagte ich, einigermaßen entrüstet über den strengen Schulmann.

„Sind sie denn den Jahren nach etwa nicht Schulknaben? Wie alt ist die ganze Parlamentswirthschaft? Zwölf Jahre, nicht mehr, nicht minder. Sie werden doch nicht leugnen wollen, daß ein ordentlicher Parlamentscursus etwas mehr bedeuten will, als der Gymnasialcursus, zu welchem ein Junge von mäßigen Fähigkeiten seine zwölf Jahre braucht. Lassen Sie sich von unserem parlamentarischen Kanzleirath ein Billet geben, gehen Sie in die Kammer und hören Sie einmal aufmerksam und streng kritisch zu, dann wollen wir uns wieder sprechen.“

„Es sind doch einige tüchtige rednerische Talente vorhanden, einige schlagfertige Meister in Angriffen und Entgegnungen, einige witzige Köpfe … “

„Einige – einige –“ rief mein Mann, „sie sollen sich aber Alle auszeichnen, jeder nach seinen Fähigkeiten, überhaupt werden unter den vielen Millionen Preußen sich doch noch ein paar hundert talentvolle und redefertige, mit Sitzfleisch versehene, kenntnißreiche und gesinnungsvolle Männer für ein Parlament auftreiben lassen. Das Zeug zu solchen Leuten ist im Volke in hinreichendenn Maße vorhanden, aber die Pädagogik muß es erst gehörig krumpfen und decartiren. Ich gehe in allem Ernste damit um, eine Schule des Abgeordneten zu stiften.“

„Eine Schule des Abgeordneten?“ fragte ich verwundert.

„Ja, mein Herr, die Stummen im Parlamente haben mich schon vor Jahren auf diesen Gedanken gebracht. Diese armen abgeordneten Menschen, die vor lauter Vertrauen ihrer Wähler mit dem schweren und verantwortlichen Amte der Volksvertretung belastet worden sind, sitzen in den Verhandlungen fast so kläglich da, wie gewisse Zuschauer im französischen Theater; auch sie verstehen die parlamentarische Sprache nicht. Sie sind eigentlich nur in der Liste, an der Casse und im Namensverzeichniß der Abgeordneten vorhanden; sonst reden sie weder, noch arbeiten sie für das Volk. Die Zeitungen nennen sie niemals; selbst über die traurige Nothdurft irgend einer persönlichen Bemerkung sind sie erhaben. Von den parlamentarischen Spottvögeln werden sie unverbrüchlich in Ruhe gelassen, höchstens nimmt sie ein Minister auf seiner Soirée hinter einen dichten Fenstervorhang und versichert sich mit einigen Schmeichelworten und Händedrücken ihrer Stimme für eine seiner Vorlagen.“

„Allerdings sind diese Herren nicht die erfreulichsten Exemplare der Volksvertretung,“ sagte ich mit lachendem Munde.

„Die Stummen werden meine Schüler, wenn ich mich auf den in jedem Menschen schlafenden heimlichen Ehrgeiz verstehe. Haben sie erst einmal den Honig des Beifalls ihrer Collegen gekostet, so steht mein Institut auf festen Füßen, denn ich trete in der nächsten Session mit einem Institut für parlamentarische Redeübungen zum Besten schüchterner Abgeordneten auf!“ Der Mann sprach mit einer solchen Zuversicht, daß er mir wirklich imponirte. Ich gab daher dem Aeltesten der Bierzapfer loci einen sachten Wink, zwei frische Gläser zu bringen, und bat den Pädagogen, mir den Plan seines Unternehmens ein wenig genauer mitzutheilen, da ich erbötig sei, ihm im Wege der Journalistik beizustehen.

Der Pädagog leerte mit einer Gewandtheit, die ihm noch aus seinen Studentenjahren geblieben sein mochte, das frische Seidel bis auf einen kaum nennenswerthen Rest, räusperte sich und sagte: „Die Sache ist sehr einfach; ich bilde aus Abgeordneten, die sich in meine Zucht und Lehre begeben haben, solchen, die ihr Volk dereinst vertreten und sich zu Landboten heranbilden wollen, jungen, politisch begabten Leuten und staatsmännisch hoffnungsvollen Knaben ein kleines Afterparlament. Vor jeder Sitzung arbeiten wir in bester Form die nächste Tagesordnung in den späteren Abendstunden durch. Mein Parlamentchen wird in dieselben Fractionen getheilt, wie das große, und es soll mir selbst nicht darauf ankommen, einen scharfen Reactionär, einen garstigen Geheimrath, einen Menschen der Regulative, für ein hohes Honorar zu einer parlamentarischen Gastrolle zum Besten meiner Zöglinge zu gewinnen, nur damit sie ihn rednerisch gründlich abmucken.“

„Ganz vortrefflich!“ rief ich und drückte dem seltenen Manne die Hand, „die Idee eines solchen Afterparlamentes zur Uebung für die Anfänger und Stümper unter den Landboten ist unvergleichlich. Schon der Titel, der einen so geistreichen Gegensatz zu der leidigen Bezeichnung „Rumpfparlament“ bildet, versetzt mich in Entzücken. Laden Sie mich doch ja ein, wenn der Reactionär bei Ihnen auf Gastrollen ist, denn obgleich ich Ihre Ansichten über unsere Landboten nicht ganz theile, glaube ich doch, daß in Folge fortgesetzter rednerischer Uebungen die parlamentarisch feinere Redekunst sehr zunehmen und namentlich den Gegnern der Aufklärung die Wahrheit weit schärfer und geistreicher gesagt werden könnte. Wie aber gedenken Sie es mit den Parteien zu halten?“

„Mit den Parteien?“ flüsterte der Pädagog, „ich bin kein gesinnungsloser Bösewicht, aber ich habe lange genug die modernen Staats- und Verfassungsmiasmen eingeathmet, um nicht zu wissen, daß ein Landbote unseres Jahrhunderts sich so gut auf die äußerste Rechte, wie auf die Linke verstehen muß. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Leuten nennen, die sich in beiden Fächern versucht haben. Nach meinem Princip fangen die Schüler des Afterparlaments mit Redeübungen für die äußerste Linke an und hören mit Reden für die äußerste Rechte auf. Wenn Sie auf eine Menge Männer blicken, die sämmtlich eine schöne Carriere gemacht haben, so werden Sie mir einräumen, daß ich als Pädagog der Kunst, ein Abgeordneter zu sein, denselben Weg einschlagen muß.“

„Die Schule der Jugend,“ sagte ich ziemlich unwillig, „wird, Gott sei Dank, nach reineren Grundsätzen geleitet; in ihr wirkt der Lehrer nicht weniger auf die Ausbildung der Fähigkeiten, als auf die Erhaltung einer moralischen Gesinnung ein.“

Mein Mann lächelte boshaft. „Vergessen Sie nicht, mein Lieber, daß wir in der Politik unter Wölfen mitheulen müssen,“ sagte der Pädagog.

Die widerspruchsvollen Redensarten des Mannes wurden mir nun etwas unheimlich, ich stand auf und wollte mich empfehlen; er hielt mich am Rockschoß fest.

„Erlauben Sie,“ murmelte der Mann und zog ein Blatt Papier aus seiner etwas unreinlichen Brieftasche, „daß ich Ihnen wenigstens einen Prospectus meiner Anstalt mitgebe. Im nächsten Jahre eröffne ich das Afterparlament; das monatliche Honorar beträgt zehn Thaler, Abgeordnete über fünfzig zahlen fünf Thaler mehr.“ So trennten wir uns, und ich begab mich, lebhaft angeregt von den neuen Ideen des zweideutigen Mannes nach Hause, um unsere Unterhaltung so getreu als möglich niederzuschreiben. Im Ganzen war mir doch ein Stein vom Herzen gefallen; ich wußte jetzt, wo Hülfe für das Parlament zu finden war, wenn auf der Tribüne ein Greis, der seine Rede ablesen wollte, oder ein hülflofer Stammler vom Präsidenten getadelt wurde.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_075.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)