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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Knaben schlaflose Nächte, daß er bei Berechnung des Verhältnisses zwischen den Leiden Christi und der Strafe, deren Stelle dieselben vertreten sollen, kein beruhigendes Facit finden konnte. Hier in Gnadenfrei wurden durch die Vorträge der Brüder, denen er beiwohnte, neue Qualen in seiner Seele hervorgerufen. So lernte er aus eigener Erfahrung die Gefahren eines schwärmerischen Pietismus und den angstvollen Zustand des Zweifels kennen, den er durch eigene Kraft siegreich überwand. – Vorläufig aber faßte er eine solche Vorliebe für die Brüdergemeinde, daß er ihr unter jeder Bedingung angehören und lieber in ihr als ehrsamer Handwerker leben, als außerhalb derselben den Weg zum gelehrten Ruhm betreten wollte, für den ihn sein früherer Lehrer in Pleß so zu enthusiasmiren gewußt hatte.

Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher.

In solcher Verfassung erfüllte ihn die Gewährung seines Herzenswunsches mit unendlicher Freude; er wurde im Jahre 1783 in das Pädagogium zu Niesky und später in das Seminarium zu Barby aufgenommen, um sich zum Geistlichen der Gemeinde auszubilden. Mit großem Fleiße widmete er sich in Gemeinschaft mit seinem talentvollen Freunde Albertini, dem nachmaligen Bischof der Brüder, dem Studium der griechischen Sprache. Trotz ihrer mangelhaften Vorkenntnisse lasen, oder verschlangen vielmehr die Jünglinge die ewigen Dichtungen eines Homer, Hesiod, Theokrit, Sophokles, Euripides und Pindar. So legte Schleiermacher hier den Grund zu seiner classischen Bildung, zu der wunderbaren Verschmelzung des christlichen Lebensinhalts mit hellenischem Schönheitssinn in seiner vielseitigen, reichbegabten Natur. – Aber zugleich entwickelte das tiefere Studium des Alterthums und die damit verbundenen Fortschritte in seiner Seele einen heftigen Gährungsproceß. Je mehr er über sich nachdachte und seine Umgebung beobachtete, desto klarer wurde ihm der Zwiespalt zwischen seiner inneren Ueberzeugung und der zwar frommen, aber beschränkten Weltanschauung und Lebensordnung der Brüdergemeinde, bis er endlich zu dem Entschlusse gelangte, dieselbe zu verlassen. Er schrieb zu diesem Zwecke an seinen Vater, dem er offen den Zustand seiner Seele darlegte.

„Ach, bester Vater,“ sagte er unter Anderm in diesem charakteristischen Briefe, „wenn Sie glauben, daß ohne den Glauben, den Sie als ein Regale der Gottheit bezeichnen, keine, wenigstens nicht die Seligkeit in jenem, nicht die Ruhe in diesem Leben ist, als bei demselben, und das glauben Sie ja, o, so bitten Sie Gott, daß er mir ihn schenke, denn für mich ist er verloren. Ich kann nicht glauben, daß der ewiger wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind. Ach, bester Vater, der tiefe durchdringende Schmerz, den ich beim Schreiben dieses Briefes empfinde, hindert mich, Ihnen die Geschichte meiner Seele in Absicht auf meine Meinungen und alle starken Gründe für dieselbe umständlich zu erzählen, aber ich bitte Sie inständig, halten Sie sie nicht für vorübergehende, nicht tief wurzelnde Gedanken; fast ein Jahr lang haften sie bei mir, und ein langes, angestrengtes Nachdenken hat mich dazu bestimmt.“ – Zugleich bat der Sohn um die Erlaubniß, die Universität Halle besuchen zu dürfen, wo ein Bruder seiner indeß verstorbenen Mutter Professor der Theologie war. Mit tiefem Schmerz, aber weit entfernt von fanatischem Zorn empfing der gläubige Vater das Bekenntniß des von Zweifeln heimgesuchten Jünglings, das er von seinem Standpunkte aus zu widerlegen versuchte. – „Und nun, mein Sohn,“ schließt der nicht minder charakteristische Brief, „den ich mit Thränen an mein Herz drücke, ach! mit herzschneidender Wehmuth entlass’ ich Dich, und entlassen muß ich Dich – da Du den Gott Deines Vaters nicht mehr anbetest – nicht mehr vor einem Altar mit ihm kniest – aber noch einmal, mein Sohn, ehe wir von einander scheiden – ach, sage mir doch: was hat denn der arme, sanftmüthige und von Herzen demüthige Jesus Dir gethan, daß Du nun seiner Erquickung, seinem Gottes-Frieden entsagest? war Dir denn nicht wohl bei Ihm, wenn Du Deine Noth, den Jammer Deines Herzens Ihm klagtest? Und nun willst Du für Gottes Langmuth und Geduld, mit der Er Dich trug, Ihn verleugnen? den Schwur brechen, den Du so oft vor Ihm thatest: bei Dir Jesu will ich bleiben? – warum willst Du von Ihm gehn – hast Du keine Lebensworte bei Ihm vernommen?“ – Nachdem er die Erlaubniß seines Vaters endlich erlangt, schied Schleiermacher aus der Brüdergemeinde, um die Universität Halle unter keineswegs günstigen Umständen zu beziehn. Er selbst fertigte über seine Ausgaben folgendes interessante Rechnungsschema an von dem, was ein Student in Halle damals brauchte: Holz jährlich 12 Gulden. Miethe und Aufwartung 24 Gld. Mittagstisch 40 Gld., Frühstück und Abendbrot 48 Gld., wovon er, da er keinen Kaffee trank und des Abends nicht viel aß, die Hälfte noch zu „retranchiren“ hoffte; Friseur 8 Gld., ditto Stiefelputzer und ditto Wäscherin. Dazu kamen noch Collegiengelder und Kleidungsstücke, mit denen er, wie er klagte, sehr schlecht versehn war. Zum Glück fand er an dem Bruder seiner Mutter sowohl eine leibliche wie auch eine geistige Stütze. Durch diesen wackern Verwandten und gelehrten Theologen kam auch eine gewisse Ordnung in sein lückenhaftes Wissen. Schleiermacher war eigentlich ein Autodidakt und theilte die Fehler und Vorzüge dieser Menschenrasse, einen gewissen Eigendünkel, den er erst später ablegte, aber auch eine gewisse geistige Selbstständigkeit, indem er aus der Universität meist nur Thatsachen und Data kennen lernen wollte, um daran seine eigenen Reflexionen anzureihen. Mit besonderer Vorliebe wandte er sich der Geschichte zu und zwar, was sich eigentlich als sein höchstes Bedürfniß zeigte, der Geschichte der menschlichen Meinungen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_029.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)