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noch Kraft genug hätten. Dessenungeachtet ließen die Franzosen einige auf der Straße aufgegriffene Bauernkarren dem Zuge nachfahren. Herr J. eilte nun sogleich auf seinen Schulfreund Gabain zu, ohne daß die Franzosen es hinderten, und sprach mit ihm weitergehend von der vergangnen schönen Jugendzeit und der todesschwangeren Gegenwart. Flemming oder Felgentreu, der im Zuge vor ihnen herging, fragte Gabain, wer der Begleiter sei. Da er hörte, es sei ein Weseler Bürger und ehemaliger Schulcamerad, so sagte er zu Herrn J: „Kommen Sie mit uns und sehen Sie, wie preußische Officiere sterben!“ So ging Herr J. mit dem Zuge, bis dieser auf den Richtplatz gelangte, wo sich um die drei großen Gräber die Truppen in einem Halbkreise aufgestellt und viele Zuschauer versammelt hatten. Die Gefangenen stellten sich in eine Reihe nebeneinander, ohne in den letzten Minuten des Lebens im Geringsten ihre bisher gezeigte würdevolle Haltung zu verlieren, selbst die Jüngsten unter ihnen zeigten eine Todesverachtung, wie sie selbst bei alten ergrauten Kriegern selten ist.

Eine tiefe Stille herrschte rings im harrenden Kreise; alle standen in gespannter Erwartung, denn nur wenige Minuten noch, und elf in ihrer Jugendkraft blühende Jünglinge lagen zerschmettert auf der kühlen Erde, die den Lebenden zu ihrem Empfang drei dunkle Grabesbetten schon zeigte. Die zur Execution bestimmten 66 Kanoniere traten den Elf gegenüber. Sechs Kugeln waren für jeden bestimmt. Eine Abtheilung stand in Reserve. Die Trommeln schwiegen. Als der Adjutant vom Platze den Verurtheilten noch einmal das Urtheil vorlesen wollte, verweigerten sie diese unnütze Entschuldigung des gewaltsamen Mordes anzuhören. Doch baten sie mit offenen Augen die Todeswunde empfangen und selbst das Zeichen dazu geben zu dürfen. Diese letzte Bitte wurde ihnen gewährt. Noch einmal umarmten sie sich mit den freien Armen und vor allen das Brüderpaar Wedell, allen Zuschauern ein schmerzlicher Anblick. Noch einmal schauten sie voll Wehmuth nach Osten, nach dem theuern Heimathlande und sandten den Geliebten den letzten Gruß, entblößten dann Hals und Brust und riefen den gegenüberstehenden Kanonieren zu, das deutsche Herz nicht zu fehlen. „N’ayez pas peur, les canoniers français tirent bien!“ erwiderte einer der Schützen; darauf riefen die Heldenjünglinge, in deren hochwallender Brust die Liebe für König und Vaterland zum letzten Male aufloderte, alle zugleich: „Es lebe unser König, Preußen hoch!“ In diesem Augenblicke warf Ernst von Flemming, der am Ende des linken Flügels stand, zum Todeszeichen seine Mütze in die Luft, da krachten die 66 Musketen, und Pulverdampf umhüllte wie ein graues Leichentuch die Gefallenen. Zehn lagen todt auf dem kalten Rasen; einer aber, Albert von Wedell, stand noch aufrecht, ihm war nur der Arm zerschmettert; mit fester Stimme rief er dem Commando zu, besser auf das preußische Herz zu zielen. Da trat eine neue Section schnell vor, und ihre Kugeln streckten auch ihn darnieder. So empfingen sie die letzte Wunde der Erde in ihre männliche Brust; kein Schmerz drängte sich zwischen ihr Sterben und die Unsterblichkeit. Ihr letzter Gedanke war das Vaterland. –

Fast vier Jahre noch nach dem Blutgerichte zu Wesel lag der Druck der napoleonischen Herrschaft auf Deutschland. Gott aber sprach im Jahre 1812 im hohen Norden das Urtheil über den Sohn des Südens, der, Wahrheit, Recht und Freiheit verachtend, durch Lüge, Hinterlist und Gewalt seinen blutigen Thron auf den Trümmern Europa’s errichtet; wenige Monden noch, und die Begeisterung, welche die elf Jünglinge in den Tod geführt, wehte wie ein belebender Odem durch Deutschland, ergriff die erstorbenen Glieder unseres Nationalkörpers und fügte sie aneinander. Eine Gluth durchzuckte alle Herzen und rettete das Vaterland. Am 3. Februar 1813 erschien der Aufruf des Königs von Preußen, der die Jünglinge zu den Waffen rief. Am 18. October 1813 schon ward die Schlacht bei Leipzig geschlagen, und Napoleon verließ in wilder Flucht Deutschland, um nie wieder seine Fluren zu betreten. Am 30. März 1814 zogen die Verbündeten in Paris ein, aber erst am 10. Mai 1814 öffnete Wesel seine Thore den Preußen. Ueber das Märtyrer-Grab war seither das Gras gewachsen, und nur der wiederkehrende Frühling schmückte es alljährlich mit seinen duftenden Kindern – den Blumen. Nun aber, in der Freiheit Morgenroth, erinnerte man sich der Gemordeten, die schon in dunkler Nacht den kommenden Tag der Freude und der Freiheit verkündet; die Einwohner Wesels bepflanzten jetzt die Gräber mit Pappeln und Akazien und umgaben sie mit einer grünen Umzäunung. Im Jahre 1815 wollte die Freimaurerloge zum goldenen Schwerte mit einem einfachen Denkmal den Platz zieren, allein es wurde nicht erlaubt. Es folgten die rauschenden Feste der Höfe und des Wiener Congresses, es constituirte sich der Bundestag, die Carlsbader Beschlüsse wurden gefaßt, Specialcommissionen und Blutsenate ernannt, – Alles, um den Geist wieder zu bannen, den man einst zur Rettung der Throne heraufbeschworen.

Die Bäume auf dem Grabe der Ermordeten aber wuchsen und gediehen von ihrem Marke, in ihren Blättern rauschte es, wie leise Klagen über die Undankbarkeit, die das Opfer jener elf Helden, deren Gebeine hier moderten, und die Hingebung des ganzen deutschen Volkes vergessen. Endlich nach sechsundzwanzig langen Jahren, fünf Jahre nachdem die Julirevolution Frankreich’s die Regierungen an ihre Sünden gemahnt, am 31. März 1835 wurde den Vergessenen ein Denkmal gesetzt, nicht aber von der Regierung des Fürsten, mit dessen Namen auf den Lippen sie gestorben waren, sondern aus Beiträgen des preußischen Heeres. – Das alte Lied – das alte Leid!

Bei der Erinnerung an das leuchtende Beispiel dieser Blutzeugen aber wollen wir uns geloben, ihnen nachzuahmen und dem Vaterlande, wenn es wieder Noth thun sollte, Alles zu opfern, selbst auf die Gefahr hin, wiederum von Undankbaren vergessen und – verleugnet zu werden. Alles für deutsche Ehre und deutsches Vaterland – aber auch nur für diese!



In der Wildniß.
Aus den Wäldern von Ecuador.
Von Fr. Gerstäcker.

Es ist ein gar wunderbares eigenthümliches Ding für Jemanden, der an europäische Zustände, an europäische Gesittung, an europäische Bequemlichkeiten gewöhnt ist, hier auf einmal mitten in die Wildniß zu fallen, und sich da so häuslich niederzulassen, als ob er im ganzen Leben nicht daran dächte wieder fort zu gehen. – Es hat seinen Reiz, das läßt sich nicht leugnen, und schon daß ich jetzt seit fast vier Monaten den Namen Louis Napoleon nicht einmal habe nennen hören, ist eine Art von europäischer Erholung. Außerdem bietet die Natur auch wieder manches wunderbar Schöne – die ewig schaffende, die ewig sich verjüngende Natur, die hier unter keiner Scheere gehalten wird, sondern sich frei – manchmal auch ein wenig zu frei – regen und bewegen kann.

Außerdem müßte ich aber schändlich lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir solch’ ein Leben – mit den Banden, die mich daheim fesseln – auf die Länge der Zeit behagen könnte, und ich finde denn doch, daß ich, trotz Allem was uns daheim drückt und ärgert, keineswegs schon zu den Europamüden gehöre. Ich bin aber einmal hier, bin mitten in die Wildniß hineingesprungen, und Alles, was ich zu thun habe, ist zu sehen, daß ich wieder heraus komme. Bis dahin will ich mich aber, soweit es meine Mittel erlauben, ihrer freuen, will sie genießen nach besten Kräften, und die Erinnerung mag mir dann später vergüten, was ich jetzt gerade an der Erinnerung leiden muß.

Den Leuten hier darf man es übrigens nicht verdenken, daß sie sich keinen Begriff von unseren europäischen Zuständen machen können – kommt es mir selber doch wahrhaftig manchmal wie ein Traum vor, daß zwei so verschiedene Länder existiren und in wenigen Wochen erreicht werden können, ohne daß eines vom anderen viel mehr als den bloßen Namen kennt. – Dort daheim Alles Leben und Bewegung, ein ewiges Drängen und Treiben und Streben – ein rastloser Fleiß und Ehrgeiz, ein ewiger Kampf um des Lebens Güter – oft um das tägliche Brod, und o wie oft! – hier dagegen Nichts als Ruhe, ewige Ruhe, im

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_008.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)