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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Adjutant des Regiments war ihm gefolgt. Der Officier der Wache war vorausgeschritten. Nach einer Minute hörte man draußen ein halblautes Commando. Die Soldaten der Wache traten unter das Gewehr. Noch einmal wurde commandirt. Zwanzig Schüsse fielen wie einer.

„Es ist geschehen,“ sagte der Oberst zu den Officieren, die mit ihm zurückgeblieben waren. „Der Tod sühnt Alles, selbst seine That. Dieser Mann, meine Herren – erfahren Sie es, damit Sie ein Beispiel sehen, wie Verrath und Feigheit sich bestrafen – dieser Mann, Edelmann und Soldat – ich nenne seinen Namen nicht – war einer von jenen Generalen, die nach der Schlacht von Jena schmachvoll die Festungen ihres Königs übergaben.“




Der Advocat Rohden und Elvire Krajewska waren an dem einsamen Landhause vor der Stadt angelangt. Es lag in nächtlicher Ruhe vor ihnen. Nur das Wohnzimmer war erleuchtet. Sie hatten es erwarten können.

„Der Vater wird da sein,“ sagte Elvire, und ihre Angst strafte ihre Hoffnung Lügen.

Die Hausthür war unverschlossen. Sie gingen in das Haus und traten in das Wohnzimmer. Melanie war da. Sie war bleicher, als je. Aber ihr Gesicht war nicht von wilder, heller Gluth durchflogen, und der Blick ihrer Augen bohrte sich nicht stechend in einen Winkel und irrte nicht mit dunkelglühendem Feuer wirr umher. Ein mildes, wenn auch zum Sterben mattes Lächeln umspielte ihre feinen Lippen, und ein klarer, stiller Glanz hatte ihre schönen Augen erhellt. So saß sie an der Seite eines hoben jungen Mannes, der sie mit seinen Armen umschlungen hielt und tief und trauernd in das Gesicht sah, das dem Gesichte einer Sterbenden, einer glücklich Sterbenden glich. Sie hatten sich wiedergefunden, die beiden Liebenden, nach siebenjähriger Trennung, nachdem keines von ihnen in dieser ganzen langen Zeit nur ein einziges Mal die Hoffnung gehabt hatte, daß das Auge des Einen jemals werde wieder in das Auge des Anderen blicken können. Sie durften sich liebend wieder in die Augen sehen, sie durften in alter Liebe wieder die Herzen an einander schlagen lassen. Auch in der alten Hoffnung?

Der preußische Officier, den der Greis befreit hatte, war der Neffe des Generals. Er und seine Cousine Melanie waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten früh einander geliebt. Ihre Liebe war die innigste, herzlichste, sie war wie der Nerv und das Blut ihres Lebens in ihre Herzen hineingewachsen. Die Eltern hatten den Bund ihrer Herzen gesegnet. Da kam der unglückliche Tag von Jena. Ihm folgten die schmachvollen[WS 1] Tage jenes Verraths und jener Feigheit preussischer Generale, die kaum ein edler hochherziger Tod wieder sühnen konnte. Der Neffe, der Verlobte seiner Cousine, selbst Officier, Adjutant seines Oheims, nannte den General einen Ehrlosen, warf ihm seinen zerbrochnen Degen vor die Füße, und entfloh einer Liebe, die er seiner Ehre opfern mußte.

Er suchte den Tod in den Schlachten von Eulau und Friedland, später in dem Schill’schen Corps. Er fand nicht den Tod, aber eine furchtbare Gefangenschaft in den französischen Bagno’s. Er ertrug sie. Was sollte er in der Heimath? Die Liebe war ihm verloren; sein Vaterland war von Fremden geknechtet. Da hörte er von dem Wiedererwachen des Geistes der Freiheit in dem deutschen Volke, von den Kämpfen, um die Freiheit des Vaterlandes wiederzuerobern, die fremden Unterdrücker wieder zum Lande hinauszujagen. Es litt ihn nicht mehr in den fremden Fesseln. Für sein Leben war wieder ein Ziel, ein hohes, edles Ziel da. Er setzte sein Leben an seine Freiheit, um es dann an die Freiheit seines Vaterlandes zu setzen. Er entkam. Er wurde wieder gefangen im letzten Momente. Er wurde wieder befreit von jenem Manne, an den die heiligsten Bande ihn fesselten, den er einen Ehrlosen genannt hatte, hatte nennen müssen, von dem er die Freiheit nicht hatte annehmen wollen, dem er für sein Leben nicht hatte danken können.

Er fand die Geliebte wieder. Der Vater selbst hatte sie zu ihm geführt. Die Ueberraschung hatte sie nicht gebrochen, nicht den Körper, nicht ihren Geist. Ihr Körper war schon längst in seinem Lebenskeime zerrüttet. Aber in der Nähe des Verlobten zog auf einmal eine mächtige Kraft des Willens in ihre Brust ein, der ihr den Körper aufrecht hielt und den Geist erhob. Nur wenige Minuten konnte der Geliebte bei ihr weilen, er sollte sie stark und kräftig finden. Sie erlag nicht den Anstrengungen, die es sie kostete.

So fanden Elvire und Rohden sie. Elvire hatte das Unglück ihrer Schwester gekannt, aber nicht seine Veranlassung. Sie war zu jener Zeit ein Kind gewesen, der man die Schande ihres Vaters hatte vorenthalten können. Man hatte sie später sorgsam davor gehütet, sie zu erfahren. Sie erfuhr durch flüchtige Worte die Wiederkehr und die nochmalige Befreiung des Geliebten ihrer Schwester. Die Angst des jungen Mädchens um den Vater vermehrte sich.

„Wo ist der Vater?“ rief sie.

„Was ist mit meinem Vater geschehen?“ waren ihre letzten Worte gewesen, als sie den Ball verließ. Er war auch im Hause nicht.

„Er verließ mich,“ sagte die ältere Schwester, „nachdem er mir Adalberts Ankunft angekündigt und mich hierher geführt hatte. Ich glaubte, er würde zu Dir zurückkehren.“

„Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Es ist ihm ein Unglück begegnet. Du selbst, Melanie, hattest es verkündet –“

Da – war es die Aufregung der Schwester, war es etwas Anderes – auf einmal flog wieder die wilde Fiebergluth durch das Gesicht der ältern Schwester. Sie riß sich aus den Armen des Geliebten. Ihre Augen starrten in den dunkeln Winkel. Dann sprang sie auf. Ein fürchterlicher Schrei entriß sich ihrer Brust.

„Er ist todt!“ schrie sie auf. „O, sie tödten ihn, ich sehe es, ich sehe es! Vorbei – vorbei, eine Leiche!“

Sie fiel, selbst einer Leiche ähnlich, in die Arme des Geliebten.

„Die Unglückliche!“ sagten die Anderen. Aber sie standen doch erstarrt um sie her.

Und wenige Augenblicke später trat, gebeugten Hauptes, das durchfurchte Gesicht voll Thränen, ein alter Mann in das Zimmer.

„Herr,“ sagte der alte Gefangenwärter zu dem jungen Officier, „mans sucht Sie. Kommen Sie mit mir. Ich führe Sie sicher über die Grenze.“

„Und mein Vater?“ rief die jüngere Schwester ihm zu.

Der alte Mann beugte das Haupt tiefer.

„Er gab sich selbst als den Befreier des Herrn an. Sie verurteilten ihn zum Tode, und –“

„Und haben ihn erschossen?“

„Ich hörte die Schüsse, als ich die Stadt verließ.“

Elvire war in Ohnmacht gefallen.

„Ewiger, gerechter Gott!“ rief entsetzt der junge Officier.

„Und ich habe ihn in den Tod gejagt! Für mich mußte er sterben!“

Melanie’s Geist war wieder klar erwacht. Jener Anfall war der letzte ihres Lebens gewesen. Sie hatte die Worte des Gefangenwärters gehört.

„Nicht für Dich, Adalbert,“ sprach sie klar und ruhig. „Für seine Ehre ist er gestorben. Für seine Ehre mußte er sterben, jetzt, gerade jetzt. Der Feind wird aus dem Lande vertrieben, überall wird Deutschland wieder frei. Wohin sollte er dann? Hier hatte er in der tiefsten Verborgenheit ein Asyl gefunden. Morgen, übermorgen oder später, wenn siegreich unsere Truppen hier einrücken, war es für ihn verloren. Sollte, konnte er ein neues aussuchen? War nicht Alles, jeder Sieg unserer Waffen, Deutschlands Freiheit und Deutschlands Ruhm, für ihn – laßt mich das Wort aussprechen – das arme Kind dort in seiner glücklichen Ohnmacht hört es ja nicht – war nicht Alles seine Schmach, seine Vernichtung? Er ist für seine Ehre gestorben. Wohl dem Unglücklichen! – Geh Du jetzt, Adalbert. Wir sehen uns wieder, wenn auch nur bei ihm. Denn Dir wird ein langes Leben voll Ruhm blühen, und ich – Aber geh, geh!“

Sie reichte ihm die Hand. Er preßte einen heißen Kuß auf ihre bleichen Lippen. Dann ging er, und seine Thränen fielen vor ihm nieder. Der alte Gefangenwärter folgte ihm. Als er fort war, gab die Kranke dem Advocaten die Hand.

„Rohden,“ sagte sie, „das Unglück dieses Hauses ist kein Geheimniß mehr für Sie. Es hat sich erfüllt. Es ist gnädig an diesem armen Kinde vorüber gegangen. Machen Sie sie ganz und immer glücklich. Lassen Sie sie nie erfahren, was Sie heute hier vernommen haben. Sie erwacht, trösten wir sie!“

Waren auch jene Worte der Unglücklichen nicht die Worte einer Seherin, sie gingen in Erfüllung. Schon am folgenden Tage ging die Nachricht von dem vollständigen Siege der Verbündeten über Napoleons Heerschaaren bei Leipzig ein. Die mit einer Hast sonder Gleichen fliehenden Trümmer der großen französischen Armee zogen auch das Regiment des Städtchens in ihre wilde Flucht

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schmachvolle
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_820.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)