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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

ist ein Genuß, den man sich niemals zu theuer erkaufen kann. Eine Reise in Norwegen stärkt Leib und Seele und bleibt ein Gewinn für das ganze Leben. Zwar hat man auch in Norwegen Eisenbahn und Dampfschiff, aber glücklicher Weise noch nicht in den schönsten Gegenden: dort hat man vielmehr die liebe, liebe Landstraße, von welcher mein alter Freund Balduin stets behauptet hat, daß sie für jeden vernünftigen Menschen der schönste Aufenthalt auf dieser Erde sei.

Mit der Post reist man allerdings nicht; und deshalb kann das Reisen in Norwegen Philisterseelen, nervenschwache Frauenzimmer und andere begehrliche Menschenkinder wohl zuweilen zu dem sehnsüchtigen Ausruf verleiten, daß es doch in der Heimath

Im Karrjol, – frische Fahrt.

am schönsten sei. Allein für einen Menschen, welcher Wanderlust im Herzen, Kraft und Saft in den Gliedern, einen hellen Blick und vor allen die Eigenschaft hat, etwas Reiseunbequemlichkeit als Würze des Wanderns zu betrachten, ist Norwegen der geeignetste Ort zum Reisen, den man sich denken kann. Und so sehr unbequem ist das Reisen wirklich nicht. Die Post nimmt Einen freilich nicht mit; denn sie befördert nur den Gedankenaustausch des Menschen, nicht aber den Menschen selbst: dafür aber gibt es in ganz Norwegen die beste Reiseanstalt, die man sich denken kann, nämlich den „Skyds“ (sprich Schyß). Im ganzen Lande findet man Leute, denen die Verpflichtung obliegt, die Reisenden zu befördern, und Höfe, in denen ein Raum für dieselben hergerichtet ist. Für eine fest bestimmte, überall gleich hohe Summe erhält man in diesen Gehöften, Skiften genannt, Pferde und Wagen bis zur nächsten Wechselstelle, entweder sogleich oder auf Bestellung innerhalb einer Frist von 1 bis 3 Stunden, je nachdem die Wechselstelle eine sogenannte feste oder unfeste, d. h. eine solche ist, in welcher der Reisende vorher angesagt werden muß. Dank dieser Anstalt ist man im Stande, in Norwegen in der allergemüthlichsten und lustigsten Weise zu reisen, und zwar zugleich so rasch, als man eben verlangen kann.

Es wird wohl kaum einen Fremden geben, welcher sich mit der herrschenden Einrichtung nicht in der kürzesten Zeit befreunden sollte. Die Unabhängigkeit, die Selbstständigkeit des Einzelnen wird durch sie gewahrt, wie durch keine andere Verkehrsanstalt. Man ist auf der norwegischen Landstraße frei wie der Vogel, welcher ohne bestimmte Landstraße durch die Bläue zieht, frei wie der Wanderbursch, welcher auf gut Glück, aber mit vollem Beutel in die schöne Welt hinaussteuert, ohne sich einen jener unglückseligen Pläne zu machen, mit welchen uns jetzt sogar unsere Reisehandbücher maßregeln und im Lande herum hetzen. Will man rasch reisen: man kann es; will man schlendern, gemächlich fahren, sich der herrlichen Natur nach Herzenslust freuen: man kann es auch; braucht man Obdach vor etwa hereinbrechenden Regengüssen: man findet es; will man reisen und jagen zugleich: ein ewig dienstbarer, stets gegenwärtiger Gefährte führt das Rößlein, während man dem edlen Waidwerk obliegt. Die Hauptwege sind gut, stellenweise sogar sehr gut, weil besser als manche Landstraße im glücklichen Deutschland, welche zum Besten der Rittergüter großer Herren die steilsten Berge hinauf sich schlängelt, anstatt im Thale hinzugehen; der Weg ist immer unterhaltend, bietet bei aller Aehnlichkeit des ganzen Landes immer etwas Neues und Schönes. Das Tosen eines Wasserfalls fesselt unser Ohr: wir halten unser Rößlein an und weiden uns nach Herzenslust an dem prachtvollen Schauspiel und Getön; ein freundlich Gehöft am Wege lockt uns an: wir lenken unser Gefährt durch sein Thor und verplaudern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_812.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)