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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

oder schlechtern Verarbeitung der Verstandesspeise im Gehirn auch das daraus hervorgehende Handeln ein mehr oder weniger verständiges sein wird. Ebenso muß ganz natürlich der Zustand des den Verstand offenbarenden Bewegungsorgans (an den Enden der im Gehirne wurzelnden Nervenröhren) Einfluß darauf äußern. So könnte z. B. auch der Verständigste nicht durch die Rede wirken, wenn sein Sprachapparat mangelhaft wäre, während er durch die Schrift Großes zu leisten im Stande ist u. s. f.

Was folgt nun aus diesem Vergleiche des Lebens- mit dem Verstandes-Processe? Es folgt daraus, daß, wer ein gesundes Leben und einen richtigen Verstand haben will, zuvörderst die Apparate seines Körpers, welche dem einen oder dem andern dieser Zwecke dienen, den Naturgesetzen gemäß behandeln, also richtig ernähren, gehörig thätig sein und ordentlich ruhen lassen muß; daß er ihnen ferner die passenden Erregungs- und Speisungs-Mittel (mit Hülfe gesunder Zubringer) zuführen und deren Verarbeitung im Lebens- und Verstandescentrum (Blut und Gehirn) zweckmäßig fördern muß; daß er schließlich den Austritt des durch die Verarbeitung dieser Mittel Geschaffenen aus dem Verarbeitungsorgane so viel als möglich erleichtern muß, damit sich das Leben und der Verstand recht ordentlich äußern könne.

Bock.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
Nr. 11. Der Zauberer von Berlin.

Jeder Mensch beobachtet und zieht nach seinen geistigen Anlagen aus den angestellten Beobachtungen Resultate. Aber dieser innerliche Proceß geht nur selten mit mehrerer Geschwindigkeit vor sich, und die Mehrzahl der Menschen braucht längere Zeit, ehe sie mit den sittlichen Resultaten zu Stande kommt. Daher liebt sie es, zur unterhaltenden und belehrenden Beobachtung meistens solche Persönlichkeiten auszusuchen, welche leicht und häufig der Besichtigung ausgesetzt sind und sich derselben nicht wohl entziehen können. So kommt es, daß Jedermann zunächst seine Aufmerksamkeit auf die Nachbarschaft richtet, seine Lebenserfahrungen aus ihrer Geschichte sammelt, seinen Humor an ihrem Gebahren labt und sein Album mit ihren Gestalten bereichert. Dagegen ließe sich nun nichts einwenden, wenn nicht sehr Viele, namentlich Beobachter weiblichen Geschlechtes, weiter gingen und der lockenden Versuchung erlägen, sich in fremde Schicksale zu mischen und die Handlungen ihrer Nachbaren einer in der Regel ätzenden Kritik zu unterwerfen, welche nach dem traurigen Laufe dieser mangelhaften Welt nicht selten Schimpfworte, Handgreiflichkeiten und Injurienprocesse im Gefolge hat.

Dieser ein wenig philosophisch aussehende Satz mußte vorausgeschickt werden, da die folgende wahrhafte Geschichte wesentlich auf einer derartigen Beobachtung beruht und die Gefahr nahe lag, sämmtliche darin vorkommende Personen durch etwaige mißliebige Kritik zu kränken; der Chronist hat sich daher so viel als möglich auf einfache Berichterstattung beschränkt, überläßt dem Leser die höhere Kritik und ist zufrieden, ein anspruchsloses Genrebild aus dem Leben aufgerollt zu haben.

Wenn das Wetter günstig ist, liebe ich es, Morgens und Abends den Kopf aus dem Fenster zu stecken und alle anziehenden Gegenstände zu beobachten, welche jede Straße einer großen Stadt darbietet. Ich besichtige die Wetterfahnen und den aufsteigenden Rauch der Schornsteine, die Jungen, wenn sie nach der Schule gehen und sich unter einander prügeln, die Milchkarren mit ihrem Vorspann von verdrießlichen Hunden, die Bäckerburschen mit Körben voller Semmeln am Arm, namentlich aber die Bevölkerung des benachbarten Hauses. Im Verlaufe der Jahre hatte ich zwei seiner Einwohner sogar so lieb gewonnen, wie ein Naturforscher seine Magnetnadel, sein Barometer oder Thermometer, täglich ruhten meine Augen mit Wohlgefallen auf ihnen, und ich fühlte mich verstimmt, wenn ich nicht wenigstens eines dieser beiden Exemplare ansichtig wurde.

Der Aeltere von ihnen bewohnte ein Zimmer im zweiten Stock und brachte einen beträchtlichen Theil des Tages damit zu, aus dem Fenster zu sehen und aus einer langen Pfeife zu rauchen. Doch that er Beides mit dem Zartgefühl eines gebildeten Mannes, er widerstand heroisch der Versuchung, auf die Köpfe der Vorübergehenden zu spucken oder die Pfeife über ihnen auszuklopfen, was ledige Herren so gerne thun, wenn kein Polizeibeamter sich in der Nähe aufhält. Der Herr konnte etwa ein halbes Jahrhundert erlebt haben, trug einen gut unterhaltenen Schnurr- und Knebelbart, und bedeckte seinen kahlen Scheitel vorsichtig mit dem Haarwuchs des Hinterkopfes. Unverkennbar gehörte er zu jenen biedern Militairpersonen, die in der tiefen Muße eines langen Friedens über Vieles nachgedacht haben und endlich zu der Ueberzeugung gelangt sind, daß aus einem wohlverdienten Krieger nothwendiger Weise ein Philosoph werden müsse. Auf seiner bleichen melancholischen Stirn lag etwas Nachdenkliches, jene Wolke, welche wir nicht selten im Antlitz alter, nicht sonderlich wissenschaftlicher Herren bemerken, wenn sie sich, um doch irgend eine Beschäftigung zu haben, auf die unklarsten Dinge legen, und in Magnetismus, Od und Tischrückerei arbeiten. Die Schwermuth meines Nachbars zeigte aber noch einen auf minder sublime Sorgen deutenden Anstrich; er sah aus wie ein Mann, der nicht im Golde sitzt und, um nicht elendiglich zu verkommen, das Seinige ängstlich zu Rathe halten müsse. Er besaß nur wenige Röcke und bediente sich ihrer sehr lange, auf seinen Hüten leuchtete ein poetisches Abendroth, er trug sich ferner stets diplomatisch zugeknöpft, und in der heißen Jahreszeit ältere phantastische Sommerröcke, aber dessen ungeachtet blieb er immer ein stattlicher Mann von grader Haltung und von vornehmem Wesen.

Einen Stock höher wohnte gleichfalls in einem vereinzelten Gemach ein junger Mann zur Miethe, dessen Profession aus jeder seiner Gebehrden, aus der Art, wie er ging, stand, aus dem Dachfenster sah und die Aufmerksamkeit der Menschheit in Anspruch nahm, hervorging. Auch wenn man ihn Morgens nicht mit der schwarzen Tasche unter dem linken Arme aus der Hausthür treten und mit einem kühnen Satz über den Rinnstein springen, während dessen aber der Conditormamsell gegenüber eine flüchtige Kußhand zuwerfen sah, mußte man ihn nach seiner gewählten Haltung für einen Schüler Figaro’s bewundern. Hatte mich am Morgen der Anblick des schnurrbärtigen Herren mit poetischer Schwermuth erfüllt, so erquicke ich mich Abends an dem lebensfrischen Bilde dieses Jünglings, wenn er nach dem Schluß seiner Berufsthätigkeit mit einer Guitarre im Arme dicht unter dem Dache auf dem Fensterbrete saß, und die Hauptmotive der eben beliebten Oper sang. Beide Herren bildeten auch in socialer Hinsicht große Gegensätze. Wenn der wehmuthsvolle Kahlkopf einsam von einer kleinen Pension leben mochte, so nährte sich der Jüngling mitten in der Gesellschaft durch die Dienste, welche er von früh bis spät dem menschlichen Geschlechte erwies. Da er das Barbierexamen hinter sich, aber kein Geld hatte, um sich zu etabliren, so trieb er ein fliegendes Geschäft, freilich hinter dem Rücken des Gewerberathes und ganz wider die Gesetze des Zunftzwanges. Er rasirte, frisirte, zog Zähne aus und verkittete sie, falls Rettung noch möglich war, setzte Blutegel, schröpfte, ließ zur Ader, verband die in Bierhäusern Blessirten, legte Magenpflaster, beschnitt die Hühneraugen, und genoß das Vertrauen eines Schönlein oder Frerich bei der gesammten dienenden Classe des Reviers. Ich hatte seine Bekanntschaft gemacht, als ich in Folge einer unerwarteten, nicht wohl abzulehnenden Einladung von vornehmer Seite sein Talent als Friseur in Anspruch zu nehmen genöthigt war, und in ihm eine seltene Begabung für Haarschnitt und verwegene Kräuselei entdeckte. Von diesem Abende an bediente ich mich stets seiner leichten und sicheren Hand, und verdankte ihm außerdem eine Menge des merkwürdigsten Memoirenstoffes aus unserer Gegend, über den er mir frei zu disponiren gestattete, da ihm die moderne Pedanterie der Lehre vom geistigen Eigenthum durchaus fremd war. Selbst als ich wegen Vergrößerung meiner Familie in eine entfernte freundlichere Stadtgegend zog, blieb ich ihm treu, und bei Gelegenheit von Bällen und Gesellschaften waren die Meinigen stets mit seinen Leistungen im Felde des Haarputzes außerordentlich zufrieden.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 809. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_809.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)