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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

nöthigsten war. Die Großmutter brauchte einen warmen Rock, der Vater eine Pelzmütze, die Kinder hatten keine Kleider, um zur Schule zu gehen, die Mutter hatte das eigene Bett geplündert, um dem Jüngstgebornen ein warmes Nestchen zu machen. Oder es fehlte an Wäsche, an warmen Strümpfen, an derben Schuhen. Wochenlang trug Wilhelmine mit eigenen Händen alles Nöthige zusammen. Es war ein eigenthümlicher Anblick, die stattliche Frau im schwarzen Atlasmantel, den schwarzen Federhut auf den blonden Locken, mitten im Gedränge des Christmarktes zu sehen; in einem Arme einen Ballen Leinwand, im andern ein Packet rothen Flanell; dazu ein halbes Dutzend Paar Filzschuhe an einen Bindfaden gereiht oder ein Paar rindslederne Knabenstiefel; bunte wollene Shawls, Fausthandschuhe, Kinderklappern, Puppen, Pferdchen für die Kleinen – es war unbegreiflich, wie sie so viel auf einmal fortbringen konnte. Aber es war ihre größte Lust, und wenn sie in einer der Buden etwas entdeckte, was ihren Schützlingen Freude machen konnte, nahm sie es mit, eben so unbekümmert um die Last, die sie sich aufbürdete, wie um die verwunderten Blicke, die ihr folgten. Begegnete ihr ein Bekannter, so wurde er unbarmherzig mit Stiefeln, Flanell und Leinwandballen beladen, während sie sich selbst mit andern Dingen belud. Entschuldigungen, wie „nicht Zeit haben“, ließ sie nicht gelten. „Ihr könnt auch einmal was für die Armen thun“ sagte sie; „denn Ihr habt doch Euer Lebtag noch nicht daran gedacht“, und die Furcht vor ihrem Spott hat mehr als einmal einen eiteln Patron in Lackstiefeln gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und beladen wie ein Eckensteher bis zu ihrer Wohnung neben ihr herzugehen, während er vor Verlegenheit in die Erde sinken zu müssen glaubte. Zu Hause wurde eifrig zugeschnitten und genäht, und fast alle Strümpfe, die Wilhelmine zu Weihnachten verschenkte, hatte sie mit eignen Händen gestrickt. Da es ihr sonst an Zeit fehlte, hatte sie die Gewohnheit angenommen, für ihre Armen zu stricken, während sie sich frisiren ließ – ein Gebrauch, dem sie viele Jahre lang treu geblieben ist. –

Erst wenn Alles für die Armen in Bereitschaft war, kam das Suchen und Wählen für die Freunde an die Reihe; aber auch bei der Bescheerung am Weihnachtsabend hatten die Armen das Vorrecht. Ein ungeheurer Baum war für sie angeputzt, überladen mit den feinsten Süßigkeiten. „Die Armen sollen auch einmal wissen, wie die schönen Sachen schmecken, die sie sonst nur an den Schaufenstern sehen“, sagte Wilhelmine, als einer ihrer Bekannten meinte, sie hätte besser gethan, statt dieser theuern Näschereien etwas Nützliches zu kaufen. Rings um den Baum wurden die Geschenke ausgelegt. Auch das besorgte Wilhelmine selbst, und immer wußte sie die Röcke und Kappen, die Wirthschaftsgeräthe und Spielsachen zu einem anmuthigen Bilde zu vereinigen. War Alles in Ordnung, so nahm sie ein Glöckchen zur Hand, öffnete die Thür, ließ die ersehnten Töne erschallen, und nun stürmte die Schaar ihrer Pfleglinge herein, um geblendet vcm Glanze wieder stehen zu bleiben, bis sie jedem Einzelnen mit einem freundlichen Worte, einem Scherz, einer Mahnung das ihm Bestimmte zuwies. Wenn der erste Jubel verklungen war, wurde der Baum geplündert – es war Wilhelminens Freude zu sehen, wie sich Alt und Jung um die besten Stücke rissen – und dann brachte sie die Danksagungen, die von allen Seiten auf sie einstürmten, durch ein scherzhaftes: „Macht, daß Ihr fortkommt!“ zu Ende.

Wilhelminens ältester Sohn wurde in einem Dresdner Institut erzogen; er verlebte die Weihnachtsabende bei der Mutter, bekam aber nicht eher bescheert, bis er ein paar arme Knaben von der Straße mitbrachte, die dann auch ihren Antheil erhielten. „Der Junge soll sich von Jugend auf gewöhnen, an die Armen zu denken,“ sagte sie; aber so leicht die Aufgabe des Kleinen zu sein schien, so schwer war sie oft zu erfüllen. Viele der Eingeladenen waren der Meinung, daß man sich einen Scherz mit ihnen machen wolle, und antworteten durch Grobheiten auf die freundlichen Aufforderungen. Einmal kam Wilhelm sogar im höchsten Zorn ganz allein von seinem Streifzuge zurück. Der Abend war stürmisch, heftige Schneeschauer hielten die Meisten, die sich sonst auf dem Christmarkt herumtrieben, in den Häusern fest. Erst nach langem Suchen war es ihm gelungen, wenigstens einen Bettelbuben zum Mitgehen zu bewegen. Bis an das Schloßthor war er ihm denn auch willig gefolgt, aber als es seitwärts ging, in die dunkle Ferne, wo der Wind so unheimlich mit dem Wasser um die Wette rauschte, – Wilhelmine wohnte damals an der Elbe in dem jetzigen Hotel Bellevue – wurde der Kleine bedenklich. Nur die lebhafte Schilderung der Herrlichkeiten, die ihn erwarteten, brachte ihn noch vorwärts, doch nur bis an die katholische Kirche – hier blieb er stehen und erklärte seinem Führer, daß er unter keiner Bedingung weiter ginge. Vergebens ging Wilhelm von Bitten zu Drohungen über, vergebens nahm er endlich sogar zu Gewaltmaßregeln seine Zuflucht – der Sohn des Volkes ließ ihm einen Zipfel der Jacke in den Händen zurück und stürzte mit lautem Geschrei, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, der lieben vertrauten Region der Schloßgasse wieder zu.

Eine große Aufgabe für Wilhelmine war auch das Gevatterstehen bei armen Leuten. Unter dem Dienstpersonal des Theaters und den dabei beschäftigten Arbeitern mag kaum eine Familie sein, in der sie nicht einmal wenigstens als Pathe figurirt hätte. Aber auch Leute, mit denen sie sonst gar nicht in Berührung kam, nahmen sie in Anspruch, weil es allgemein bekannt war, daß sie dem Täufling jedesmal eine ansehnliche Gabe einband. Wilhelmine wußte natürlich ganz genau, warum ihr die „Ehre“ des Gevatterstehens so oft zu Theil wurde, aber nie hat sie sich damit begnügt, nur das Geld zu geben. Sie kam selbst und hielt das Kind über die Taufe – es widerstrebte ihrem Gefühl, dem Armen gegenüber das heilige Symbol wie eine Speculation zu behandeln.

Und wie sie in dieser Beziehung zartsinnig war, so war sie es auch in jeder andern. Die Art und Weise, wie sie half, verdoppelte den Werth ihrer Gaben. Sie fragte nicht erst nach Werth oder Unwerth des Bedürftigen – wo Noth war, trat sie ein. Nie maßte sie sich ein Recht über die ihr Verschuldeten an; nie zog sie bei ihren Wohlthaten in Betracht, ob sie Dank dafür ernten würde; nie gab sie tropfenweise, sondern sie half durchgreifend, wo sie irgend konnte.

So kaufte sie einem Tänzer aus dem Corps de Ballet, der das Bein gebrochen hatte und in Folge dessen für seinen Beruf untauglich geworden war, eine Leihbibliothek und gründete ihm so eine neue Existenz. Einen armen Knaben, den sie Holz sammelnd im großen Gehege fand und der ihr in kindlicher Vertraulichkeit klagte, daß er alle Tage hinaus müßte, um Brennmaterial zu suchen, während er viel lieber zu Hause bleiben würde, um zu zeichnen – ließ sie, als sie wirklich Talent in ihm fand, zum Maler ausbilden. Und wenn ein Handwerker das Meisterwerden nicht bezahlen konnte, wenn es einer Braut an der nöthigen Aussteuer fehlte – bei Wilhelmine fanden sie immer ein offenes Herz und eine hülfreiche Hand.

Der fromme Tiedge schrieb ihr einmal, ich weiß nicht mehr bei welcher Veranlassung:

„Hoch vom Ruhm emporgetragen
Strahlt Dein Nam’ im Glanze dieser Welt.
Was Du thust in stillen Tagen,
Das wird in ein Rechnungsbuch getragen,
Das ein Engel dort in jener hält.“

Aber sich selber that sie nie genug. In einem ihrer Tagebücher schreibt sie:

„Warum sind wir nicht im Stande, ein prickelndes, peinigendes Gefühl zu überwinden, was der abscheulichste Egoismus erzeugt? Wir haben mitunter die Mittel, die oft so bescheidenen Wünsche eines Nebenmenschen zu erfüllen, ja wir fühlen uns oft mächtig zu einer solchen That gedrängt – und doch unterlassen wir sie, weil das fatale Ich sich hervordrängt und ängstlich ruft: das entziehst Du mir! Wie viel reine Freuden verscherzen wir um dieses nichtswürdigen Egoismus willen! – Unverhoffte Freude in einer freudlosen Brust entzünden, längst aufgegebene Hoffnungen erfüllen, Thränen des Kummers und der Sorge in Thränen der Freude und Wonne zu verwandeln, – gibt es eine größere Seligkeit? O wir erbärmlichen Menschen, warum thun wir nicht immer, nicht gleich, wozu uns das Herz drängt, wenn wir die Ueberzeugung haben, daß es eine gute, edle That ist?“

Wie Wilhelmine dazu kommen konnte, sich diese Vorwürfe zu machen, ist nicht zu begreifen. Hätte sie etwas bekämpfen müssen, so wäre es gewiß nicht jenes egoistische Zweifeln und Zögern gewesen, von dem sie hier spricht, sondern allein der übermächtige Drang, der sie oft trieb über ihre Kräfte zu geben. Aber sie hat sich in dieser Beziehung nie zu beschränken vermocht, und mehr als einmal hat sie sich selbst in Verlegenheit gebracht, um Andern zu helfen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_795.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)