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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

nachfolgende Besiegung durch die Völkerschlacht bei Leipzig, an und für sich geeignet war, das Walten der Vorsehung anzuerkennen und einer religiösen Stimmung nachzugeben. Besonders war der Kaiser Alexander von Rußland von einer ähnlichen Richtung ergriffen und von der Heiligkeit seiner Aufgabe nur zu sehr erfüllt, nachdem auch er den Becher des Lebens fast bis zum Grunde erschöpft hatte und durch Zerstreuungen aller Art übersättigt und blasirt war. Die verwandten Naturen suchten und fanden sich durch Vermittlung des Fräulein von Stourdza, einer Hofdame der Kaiserin Elisabeth, deren Bekanntschaft Frau von Krüdener in Karlsruhe gemacht hatte. Es war in Heilbronn, wo Alexander auf seinem zweiten Siegeszuge nach Paris mit ihr zusammentraf. Sie redete zu dem mächtigen Autokraten wie eine Prophetin des alten Bundes; rücksichtslos tadelte sie ihn wegen seines vergangenen Lebens und imponirte ihm durch ihre kühnen, nie zuvor von ihm gehörten Worte.

„Nein, Sire!“ sagte sie im Laufe jener denkwürdigen Unterhaltung, „Sie haben sich noch nicht gebeugt vor dem Erlöser wie ein Verbrecher, der um Gnade fleht. Sie haben noch nicht Verzeihung von dem erbeten, der allein Ihnen die Sünden vergeben kann; Sie haben sich noch nicht gedemüthigt vor Jesus Christus; Sie haben noch nicht wie der Zöllner aus tiefster Seele zu ihm geschrieen: – O Gott! sei mir gnädig, der ich ein großer Sünder bin! – Deshalb können Sie auch keinen Frieden finden! – Hören Sie auf die Stimme einer Frau, welche ebenfalls eine große Sünderin war, welche aber Vergebung zu den Füßen des Kreuzes gefunden hat.“

Alexander hörte tief bewegt ihre Rede und bedeckte weinend sein Gesicht mit beiden Händen. Jetzt erst schien sich Frau von Krüdener zu erinnern, daß sie vor dem größten Autokraten Europa’s stand, und suchte sich zu entschuldigen.

„Nein, Madame!“ entgegnete er, „Ihre Worte sind Musik für meine arme Seele.“

Drei volle Stunden dauerte die Unterredung, bis der Morgen graute, worauf sie der Kaiser tief erschüttert erst entließ.

„Seien Sie ohne Furcht,“ sagte er, ihr zum Abschiede die Hand reichend, „Ihre Worte haben mein Herz gekräftigt und geläutert. Sie haben mich in seiner Tiefe Dinge entdecken lassen, die ich nie zuvor gekannt. Ich danke Gott dafür, aber ich fühle die Sehnsucht nach ähnlichen Belehrungen und deshalb bitte ich Sie, in meiner Nähe zu bleiben.“

Frau von Krüdener folgte Alexander auf seinen ausdrücklichen Wunsch nach Paris, dem früheren Schauplatz ihrer frivolen Weltlust. Hier hielt sie jetzt ihre religiösen Versammlungen, zu denen sich Männer und Frauen aus allen Ständen drängten. In der Faubourg St. Honoré bezog sie das Hotel Montchenu, ganz in der Nähe des Palastes Elysee-Bourbon, wo der Kaiser residirte. Eine geheime Thüre, zu der er den Schlüssel hatte, führte ihn zu ihr, so oft er sich aus dem rauschenden Getümmel der Welt fortsehnte, um den Offenbarungen der neuen Pythia zu lauschen. In der Stille ihrer einsamen Wohnung reifte in ihm der Entschluß zu jener „heiligen Alliance“, deren erster Gedanke allen Nachrichten nach von ihr herrührte. Nur in dem phantastischen Kopfe einer schwärmerischen Frau konnte die Idee entstehen, das Christenthum mit der Diplomatie, den Himmel mit der Hölle zu verbinden. Alexander, erfüllt von seiner weltgeschichtlichen Mission, beabsichtigte nichts Geringeres, als das Evangelium zur Grundlage der Politik zu machen und somit seinen Ukasen nicht nur für Rußland, sondern für das ganze übrige Europa die Bedeutung und Geltung göttlicher Offenbarungen zu verschaffen. Frau von Krüdener gab der Sache auch den Namen, indem sie auf die bekannten Prophezeiungen im Buche Daniel sich stützte, worin eine heilige Verbindung der Könige des Nordens und des Südens verkündigt wird. Der Kaiser selbst schrieb den ganzen Entwurf eigenhändig nieder und übergab ihr denselben mit der Bitte, ihn durchzusehn und zu corrigiren. Sie gab einige Bemerkungen dazu und den Namen „heilige Alliance“.

Das merkwürdige Aktenstück lautete folgendermaßen:

„Im Namen der hochheiligen und untheilbaren Dreieinigkeit.

Da Ihre Majestäten, der Kaiser von Oesterreich, der König von Preußen und der Kaiser von Rußland, in Folge der großen Begebenheiten, welche die letzten drei Jahre in Europa auszeichneten, und besonders in Folge der Wohlthaten, die es der göttlichen Vorsehung gefallen hat, über die Staaten zu verbreiten, deren Regierungen ihr Zutrauen und ihre Hoffnung allein auf sie setzen, die innige Ueberzeugung von der Nothwendigkeit erhalten haben, den von den Mächten in ihren gegenseitigen Beziehungen beobachteten Gang auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, welche uns die heilige Religion unseres Heilandes lehrt, so erklären Sie feierlich, daß gegenwärtiger Act nichts Anderes zum Gegenstände hat, als im Angesichte der ganzen Welt Ihren unerschütterlichen Entschluß zu erkennen zu geben, sowohl in der Verwaltung ihrer Staaten, als in den politischen Verhältnissen mit jeder andern Regierung blos die Vorschriften jener heiligen Religion zur Richtschnur zu nehmen, nämlich die Vorschriften der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens, die, weit entfernt, blos auf das Privatleben anwendbar zu sein, vielmehr auf die Entschlüsse der Fürsten unmittelbar Einfluß haben und alle ihre Schritte leiten müssen, da sie das einzige Mittel sind, die menschlichen Einrichtungen fest zu begründen und deren Unvollkommenheiten abzuhelfen. Dem zufolge sind Ihre Majestäten über folgende Artikel übereingekommen:

1. Den Worten der heiligen Schrift gemäß, welche verordnen, daß sich alle Menschen als Brüder ansehen sollen, werden die drei Monarchen durch die Bande einer wahren und unzertrennlichen Brüderschaft vereinigt bleiben, und da Sie Sich als Landsleute betrachten, so werden Sie Sich bei aller Gelegenheit und in jedem Falle Hülfe und Beistand leisten; da sie Sich ferner in Hinsicht Ihrer Unterthanen und Ihrer Armeen als Familien-Väter ansehen, so werden Sie selbige in eben dem Geiste der Brüderschaft leiten, wovon Sie zum Schutze der Religion, des Friedens und der Gerechtigkeit beseelt sind.

2. Der einzige Grundsatz, der sowohl zwischen den besagten Regierungen, als zwischen ihren Unterthanen in Kraft sein muß, wird demnach der sein, sich gegenseitig Dienste zu leisten, sich durch unveränderliches Wohlwollen die gegenseitige Zuneigung zu bezeugen, wovon sie beseelt sein müssen, sich alle nur als Mitglieder einer und derselben christlichen Nation anzusehen, indem Sich die drei alliirten Monarchen selbst nur als Bevollmächtigte der Vorsehung betrachten, um drei Zweige einer und derselben Familie zu beherrschen, nämlich Oesterreich, Preußen und Rußland, wodurch Sie mithin erklären, daß die christliche Religion, wozu Sie und Ihre Völker gehören, in der That keinen andern Souverain hat, als denjenigen, dem allein die Macht gebührt, da sich in Ihm allein alle Schätze der Liebe, der Wissenschaft und der unendlichen Weisheit befinden, nämlich in Gott, unserm göttlichen Erlöser Jesus Christus, dem Worte des Allerhöchsten, dem Worte des Lebens. Ihre Majestäten empfehlen daher Ihren Völkern mit der zärtlichsten Sorgfalt als das einzige Mittel, dieses Friedens zu genießen, der aus einem guten Gewissen entspringt und allein dauerhaft ist, sich täglich mehr in den Grundsätzen und in den Ausübungen der Pflichten zu bestärken, welche der göttliche Heiland den Menschen gelehrt hat.

3. Alle diejenigen Mächte, welche die heiligen Grundsätze, von denen die gegenwärtige Acte eingegeben worden, feierlich anerkennen wollen und die es einsehen werden, wie wichtig es für das Glück der nur zu lange beunruhigten Nationen sei, daß diese Wahrheiten künftig auf die menschlichen Schicksale gehörigen Einfluß haben, werden mit eben so viel Bereitwilligkeit als Zuneigung in diese heilige Alliance aufgenommen werden.“ –

Dieses Actenstück wurde zunächst von den drei genannten Monarchen unterzeichnet; später traten demselben sämmtliche christliche Regierungen in Europa mit Ausnahme des Papstes bei, wobei der König von Frankreich und der Prinz-Regent von England die Vorsicht gebrauchten, sich nur persönlich zu verpflichten, ohne dem Lande irgend eine politische Verbindlichkeit aufzuerlegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt es sich annehmen, daß die heilige Alliance ihre geheimen Artikel hatte, die bis zu diesem Augenblicke noch nicht bekannt geworden sind. –

So tugendhaft und fromm-christlich auch die ausgesprochenen Grundsätze dieses neuen Bundes lauteten, so schnell zeigte die Praxis ihre Gefährlichkeit für die Freiheit der Völker. In der Hand eines Metternich und des von der Revolutionsfurcht gequälten Alexander bot die heilige Alliance eine willkommene Handhabe zur Unterdrückung jeder freisinnigen Bewegung, jeder nationalen Erhebung. Mit ihrer Hülfe wurden die italienischen Liberalen unterjocht, in Spanien die constitutionelle Regierung gestürzt und die grauenvollste Reaction herbeigeführt. Auch Deutschland hat einen großen Theil seiner früheren Leiden und noch vorhandenen

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