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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ein Druck, – der erste Schuß versagt, – der zweite knallt, und die Kugel jagt durch das Gehirn, daß das Raubthier mit schwerem Fall zusammenstürzt. Da leidet’s den Bub nicht mehr; im Nu hat er am jähen Abhang den Vater umklettert und hämmert mit verkehrter Büchse auf den Schädel des röchelnden Feindes ein, daß diesem der letzte Lebensfunken entflieht. – Colani ist schon lange gestorben, aber der 12jährige Bub ist jetzt ein muthiger Gemsjäger und im Sommer Führer zu dem Gipfel des Piz Languard.




Frau von Krüdener und die heilige Alliance.

Die letzte Zusammenkunft der Kaiser von Rußland und Oesterreich mit dem Prinz-Regenten von Preußen hat in der Seele der Völker Befürchtungen und Erinnerungen an die früher so genannte „heilige Alliance“ geweckt, welche zum großen Theil die Verirrungen des heutigen Europa herbeigeführt und verschuldet hat. Die ursprüngliche Idee zu diesem Bündnisse der Reaction gegen die Freiheit und politische Entwickelung der Völker rührte von einer Frau her, deren ganze Erscheinung und Schicksale ein hohes Interesse in Anspruch nehmen.

Juliane Freifrau von Krüdener wurde am 21. November 1764 in Riga geboren. Ihr Vater, der Baron Vietinghoff, war einer der reichsten Gutsbesitzer in Kurland, ihre Mutter eine Tochter des bekannten Generals Münnich, der eine Zeit lang als Verbannter in Sibirien lebte. Schon als Kind verrieth sie ungewöhnliche Anlagen und eine gewisse Frühreife des Verstandes. Noch im zarten Alter begleitete sie ihre Eltern nach Paris, wo ihr Vater ein bedeutendes Haus ausmachte und mit den berühmtesten französischen Gelehrten vielfach in Berührung kam. Ohne auffallend schön zu sein, zeigte die heranwachsende Jungfrau ein interessantes Gesicht, von Geist belebte Züge und eine hinreißende Liebenswürdigkeit, sodaß es ihr nicht an Bewerbern fehlte, von denen der Baron von Krüdener, ein bekannter Diplomat, ihre Hand erhielt. Ihre Ehe war anfänglich eine glückliche, sie gebar ihrem Gatten einen Sohn und eine Tochter, nachdem sie ihm auf seinen Posten nach Venedig gefolgt war. Hier wurde der geistreichen und liebenswürdigen Frau von allen Seiten gehuldigt; bald war sie der Mittelpunkt der großen Welt und in einen Strudel von Zerstreuungen, Festen, Bällen und Vergnügungen aller Art hineingerissen, wie sie damals die üppige Lagunenstadt in reichster Fülle bot. Unter Andern lernte sie daselbst den Grafen Alexis Stakieff kennen, der eine glühende Leidenschaft für die junge Frau des Gesandten faßte, die zwar von ihr nicht erwidert wurde, aber nicht ohne Einfluß auf ihr ferneres Leben blieb, da die entsagende Liebe des Jünglings unwillkürlich einen mächtigen Eindruck auf ihr nur zu empfängliches Herz machen mußte. Sie begann über ihr eheliches Verhältniß nachzudenken und fühlte sich unbefriedigt, um so mehr, als Herr von Krüdener sich ausschließlich seinen diplomatischen Geschäften überließ und nach dem Brauch der damaligen vornehmen Welt sich wenig mit seiner Gattin beschäftigte. Sein kalter Verstand bei sonst schätzenswerthen Eigenschaften des Geistes und des Herzens vertrug sich nicht mit ihrer Schwärmerei. Dazu kamen Zerrüttung der Vermögensverhältnisse, herbeigeführt durch den mit seinem Posten verbundenen übermäßigen Aufwand, und außerdem Kränklichkeit der nervösen Frau, die auf Anrathen der Aerzte über Paris nach dem südlichen Frankreich ging, wo sie eine Zeit lang getrennt von ihrem Gatten lebte. Auf ihrer Reise kam sie mit verschiedenen interessanten Personen in Berührung, unter denen der berühmte Schriftsteller Bernardin de St. Pierre, der Verfasser des allgemein bewunderten Romans „Paul und Virginie“, die erste Stelle einnahm. Es war in den ersten Tagen der großen französischen Revolution, als Frau von Krüdener den Boden Frankreichs betrat, und auch sie schwärmte damals mit für Freiheit und Menschenwohl, wie dies bei ihrem empfänglichen und leicht beweglichen Wesen wohl natürlich war.

In Montpellier, wo sie mehrere Monate blieb, machte sie die verhängnißvolle Bekanntschaft eines jungen Husarenofficiers, des Grafen Fregeville; in seiner Gesellschaft besuchte sie die romantischen Quellen von Vaucluse, die Petrarca durch seine Liebessonette für immer verherrlicht hat, und lernte nur zu schnell ihre Pflichten als Gattin und Mutter vergessen. Die Fortschritte der Revolution zwangen den Geliebten, der als Adliger und Soldat des Königs doppelt verdächtig war, zu fliehen; er begleitete Frau von Krüdener über Brüssel durch Deutschland in ihre Heimath, wo sie von ihrem Gatten geschieden zu werden verlangte. Familienrücksichten bestimmten sie indeß, von dieser Forderung wieder abzustehen; sie zog es vor, eine Art von Scheinehe fortzuführen, wozu ihr nur allzunachsichtiger Gatte willig die Hand bot. Nachdem der Geliebte sie verlassen, um dem aufgehenden Gestirn Napoleons zu folgen, ging sie selbst nach Paris zurück, wo sie bald ganz und gar in das Treiben der großen Welt gerieth, mit Leichtsinn neue Verhältnisse knüpfte, um sie eben so schnell wieder zu lösen. Unter Andern soll der Sänger Garat, ein wilder und frivoler Mann, längere Zeit ihr Herz besessen haben. Indeß schützte sie ihr Geist und eine gewisse Idealität, die noch nicht ganz in ihr erstorben war, vor dem völligen Untergang. Sie suchte die Gesellschaft der bedeutendsten Männer und Frauen auf, und zugleich erwachte auch in ihr das Streben, sich als Schriftstellerin auszuzeichnen. Sie veröffentlichte ihren ersten Roman „Valérie“, worin sie ihr eigenes Verhältniß zu dem Grafen Stakieff mit bewunderungswürdigem Talente und leidenschaftlicher Gluth schilderte. Das Erscheinen dieses Buches erregte in Paris ein ungemeines Aufsehen, das sie und ihre Freunde noch durch künstliche Mittel zu fördern suchten. In vollen Zügen genoß sie ihren ersten schriftstellerischen Triumph bis zur Uebersättigung.

Auf den Wunsch ihrer kranken Mutter verließ sie Paris, um nach Riga zurückzukehren. Hier sah sie eines Tages unter ihrem Fenster einen Freund ihrer Familie plötzlich vom Schlage gerührt todt niederstürzen. Der Anblick des Sterbenden machte einen furchtbaren Eindruck auf die reizbare, nervenschwache Frau. Unaufhörlich umschwebte sie das Bild des Todes, so daß sie in eine fast an Wahnsinn grenzende Melancholie verfiel. Unwillkürlich wendete sich ihre bedrängte Seele dem Himmel zu, den sie um Kraft und Erleuchtung vergebens anflehte. In solcher Stimmung wurde sie mit einem frommen Schuster bekannt, der gekommen war, um ihr ein Paar Schuhe anzupassen. Seine Heiterkeit und sein zufriedenes Aussehen fiel ihr auf, so daß sie sich veranlaßt sah, nach dem Grunde zu fragen. Er gab sich ihr als ein Herrnhuter zu erkennen und pries ihr die Macht des Gebetes und die Heilkraft der Religion für alle Bedrängnisse des Lebens an. – In ihrer Liebe getäuscht, von Genüssen aller Art erschöpft, blasirt und angeekelt von der Welt, warf sich Frau von Krüdener mit derselben Leidenschaftlichkeit in die Arme des Glaubens, wie früher in die des Vergnügens. So wurde sie aus einer sinnlichen Weltdame eine fromme Bekehrte, eine Pietistin, indem sie nur den Gegenstand ihres schwärmerischen Eifers wechselte.

Zur Vollendung ihrer Umwandlung ging sie nach Deutschland, wo sie zunächst die verschiedenen Herrnhuter-Gemeinden besuchte und in innige Verbindung mit dem bekannten Geisterseher Jung-Stilling trat. Immer tiefer versank sie in die Abgründe eines phantastischen Mysticismus, worin sie ein abenteuerlicher Pastor Fontaine und eine Bäuerin Kummrin, welche als Prophetin unter den Eingeweihten galt, nur noch mehr bestärkten. In diese Zeit fiel auch ihre nähere Bekanntschaft mit der Königin Louise von Preußen, welche auf ihrer Flucht nach Königsberg der Frau von Krüdener begegnete und in ihrer damaligen Stimmung vielfach mit ihr sympathisirte. – Die großen politischen Ereignisse führten die Letztere nach der Schweiz, wo sie in Genf längere Zeit in Verbindung mit dem jungen Empeytas, einem reformirten Geistlichen und schwärmerischen, aber aufrichtigen Pietisten, sich auf ihren erwählten Beruf vorbereitete, den Armen das Evangelium zu verkündigen. Ihr erstes öffentliches Hervortreten geschah in Heidelberg, wo sie mit einem Erbauungsbuche in der Hand sich in das Gefängniß begab, wo sie das verhärtete Gemüth der Straßenräuber und Diebe zu rühren und zu bekehren suchte. Natürlich erregten ihre derartigen Bestrebungen ein großes Aufsehen; sie fielen noch dazu in eine Zeit, welche, reich an welterschütternden Begebenheiten, wie die Flucht Napoleons aus Rußland und seine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_792.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)