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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Hände seiner Verfolger zu fallen. Er vermochte es nicht. Eine Gewalt, der er nicht widerstehen konnte, trieb ihn dem Verfolgten entgegen.

Die beiden Gensd’armen hatten ihn nicht bemerkt. Sie sahen nur den Flüchtling und hielten ihre Gewehre im Anschlage auf ihn. So ließen sie ihn auf sich zukommen. Sie gewahrten dann sein plötzliches Stutzen und Erbleichen. Aber sie konnten nicht sogleich die Veranlassung entdecken. Die Bäume verbargen ihnen den Greis. Im Augenblicke darauf kam der Flüchtling nur um so gerader auf sie zu. Sie ließen ihn ruhig herankommen. Entgehen konnte er ihnen nicht mehr. Todt oder lebendig, auf Eine Weise mußte er in ihre Hände fallen, und darauf lautete wohl ihr Befehl.

Der Flüchtling sah sich nach dem Greise nicht wieder um.

Der Greis mußte ihm zurufen, wenn er ihn warnen, retten wollte.

„Zurück!“ rief er, mit gedämpfter Stimme, mit desto größerer Angst. Der Verfolgte mußte sich nach der Stimme umsehen. Er sah die Angst des Rufenden und erkannte auf einmal etwas Anderes. Er erkannte eine Gefahr, die hohe Gefahr, in der er schwebte.

Er wollte umkehren. Es war zu spät.

„Halt!“ tönte es laut durch den Wald. „Halt, keinen Schritt mehr!“ rief es, daß es von den Wänden der Schlucht widerhallte.

Einer der beiden Gensd’armen rief es. Beide sprangen mit den angelegten Karabinern hinter der Eiche hervor.

Der junge Mann sah sie, aber er erschrak nicht mehr. Wie er sie sah, war schon sein Entschluß gefaßt. Er stand dreißig Schritte von ihnen. Entfliehen konnte er nicht mehr, ihre Karabiner trugen achtzig bis hundert Schritte weit. Hätte er es aber auch vielleicht gekonnt, von Baum zu Baum springend, bis er das schützende dichtere Gebüsch, aus dem er gekommen war, wieder erreicht hatte – sein kräftiges Gesicht zeigte einen hohen Stolz und einen dieses Stolzes würdigen festen Entschluß. Er riß aus seiner Brusttasche ein Doppelpistol hervor und spannte beide Hähne.

Dann ging er langsamen Schrittes auf die beiden Gensd’armen zu, mit ruhiger Achtsamkeit jeden ihrer Blicke, jede ihrer Bewegungen im Auge haltend. Er hatte ein eben so muthiges, wie stolzes Herz. Todt oder lebendig sollte er in die Hände seiner Verfolger fallen. Er wußte es. Für seine Freiheit und für sein Leben wollte er kämpfen, so lange er es vermochte. Dann hatte er die Ehre gerettet. Stolzer, fester Muth imponirt Jedem.

Die beiden Gensd’armen waren es jetzt, die unschlüssig standen. Aber nur einen Augenblick. Sie hatten einander fragend angeblickt. Da wußten sie auch wieder, was sie zu thun hatten.

„Halt, oder wir schießen!“ rief wiederholt einer von ihnen.

Noch zweimal setzte der junge Flüchtling den Fuß vorwärts.

Dann stand er starr, unbeweglich, festgebannt. Er hatte einen raschen Schritt gehört, der sich ihm von der Seite nahete. Er sah sich nach ihm um. Der Greis kam auf ihn zu, den er gemieden, der vor ihm entwichen war. Drei Schritte machte der finstere Mann noch, dann stand er in der Schußlinie der Gensd’armen. Er deckte mit seinem ganzen Körper den Flüchtling.

„Fort!“ rief er diesem zu. Seine Stimme war fest, laut, befehlend.

Den Flüchtling traf sie, wie wenn er in der Schlacht eine Kommandostimme gehört hätte. Er zuckte zusammen. Aber gehorchen konnte er ihr nicht. Sein Gesicht verfinsterte sich. Es wurde stolzer, aber es war ein trotziger Stolz, der sich darin zeigte.

Mit diesem wandte er sich an den Greis.

„Zurück!“ sagte er zu ihm, ruhig, kalt. „Will ich leben, so kann ich mein Leben selbst vertheidigen.“

Er wollte noch etwas hinzusetzen, und es mußte wohl etwas Bitteres sein. Ein strenger Ausdruck seines Gesichtes ließ es errathen.

Er schwieg. Er bedurfte auch keines Wortes mehr. Durch das gefurchte Gesicht des Greises war ein tiefer Schmerz gezogen, sein Körper drohte zusammenzubrechen. Er senkte tief sein weißes Haupt und trat still zurück. Der Flüchtling konnte dennoch nicht weiter voran schreiten. Von allen Seiten war schon in der Schlucht Bewegung entstanden.

Die Gensd’armen hatten nicht ohne Absicht mit lauter, der Greis hatte nicht ohne Ahnung mit gedämpfter Stimme gerufen.

Die Grenze war in weiter Ausdehnung besetzt. An dem Flüchtling mußte sehr viel gelegen sein. Ein Dutzend Gensd’armen waren in die Schlucht gedrungen. Der Flüchtling war von ihnen umringt, der Greis konnte ihn nicht mehr beschützen; keine Hülfe konnte es. Er war verloren, unrettbar. Sollte er dennoch kämpfen? Seine Augen blitzten noch muthig.

Da trat einer der Gensd’armen aus dem Kreise vor, seinen Karabiner nicht angelegt, aber tief gesenkt. Es war eine stattliche Figur, ein schon ältlicher Mann, die Spitzen seiner Haare waren grau. Gram bedeckte sein Gesicht.

„Ergeben Sie sich,“ sagte er zu dem Flüchtling, ruhig, fast würdevoll. „Sie können zwei von uns erschießen, wenn Ihnen das Glück günstig ist. Aber es wäre dennoch ein Unglück für Sie. Entgehen können Sie uns nimmer, und auch Ihr Leben können Sie nicht einmal einsetzen. Da ergibt sich der Soldat nach allen Kriegsregeln, und das kann auch ein braver preußischer Officier.“

Dem Manne waren die Thränen in die Augen getreten. Sämmtliche Gensd’armen standen in stummem, fast ehrerbietigem Schweigen. Der Flüchtling stand mit wogender Brust, in seinem Gesichte wechselten tiefe Blässe und dunkle Röthe. Aus der Brust des finsteren Greises aber rang sich, als er die Worte von einem braven preußischen Officier aussprechen hörte, ein Schmerzensschrei. Er verhüllte sein Gesicht; seine Gestalt beugte sich wieder. Er verschwand unter den Bäumen. Keiner hatte auf ihn geachtet. Der Flüchtling hatte sein Pistol gesenkt. Er reichte es dem Gensd’armen hin, der ihn angeredet hatte.

„Nehmt mich gefangen!“


2. Franzosenwirthschaft.

In einer Entfernung von fünf Minuten lag vor dem Thore der Stadt ein einfaches Landhaus. Die Stadt war eine kleine Landstadt mit zwei- bis dreitausend Einwohnern. In einem weiteren Umkreise die einzige Stadt an der Grenze, und daher der nothwendige Sitz französischer Civil- und Militärbehörden, die an der Grenze concentrirt werden mußten. Die Grenze war eine Viertelmeile entfernt. Das einfache Landhaus lag freundlich seitab von der Landstraße, ein kleiner, mit Bäumen bepflanzter Weg verband es mit dieser. Ein umfangreicher Garten umgab es. An den Garten schloß theils Ackerfeld, theils dichte, bis an das Gebirge reichende Waldung sich an.

In einem hellen Wohnzimmer des Landhauses befanden sich zwei Damen. Sie waren von verschiedenem Alter und auch sonst in allem Anderen einander unähnlich, eine gewisse Familienähnlichkeit gab sie dennoch als Verwandte zu erkennen.

Die Aeltere war eine hohe, aber hagere und gebeugte Gestalt. Das Gesicht, von einem wunderbar feinen und vornehmen Schnitt, war bleich und eingefallen. Die Augen waren groß, dunkelbraun; dichte schwarze Augenbrauen überschatteten sie, bedeckten sie aber nicht und verbargen nicht ihren Blick. Dieser Blick war ein eigenthümlicher; bald glänzte er wie ein zuckender Blitz, bald brannte er wie ein dunkel glühendes Feuer in stürmischer Waldnacht; dann senkte er sich plötzlich ermattet, ohnmächtig, erloschen. Eine Fülle rabenschwarzer Locken umzog das Gesicht. Die Dame konnte achtundzwanzig bis dreißig Jahre zählen.

Die Jüngere schien in dem frischen Alter von achtzehn Jahren zu stehen. Die zierliche Gestalt trug ganz die Frische dieses Alters. Das schöne Gesicht hatte aber schon Züge einer tiefen Schwermuth. Das große blaue Auge schien weinen zu wollen, wenn man hinein sah, und wer hinein sah, meinte dann, in die eigenen Augen müßten ihm recht schmerzliche Thränen über den Gram und den Schmerz des schönen jungen Kindes treten. Und sie war sehr schön.

Die hohe, gebeugte Gestalt der Aelteren, ihr dunkelglühender Blick unter den starken Augenbrauen, der vornehme Schnitt ihres Gesichts erinnerten zu sehr an den Greis, der, vielleicht kaum eine Stunde früher, in der Waldschlucht an der Grenze den Flüchtling hatte retten wollen, als daß man nicht sofort Töchter des alten Herrn hätte erkennen sollen.

Vor beinahe sieben Jahren, an einem kalten Decemberabende des Jahres 1806, war in der kleinen Landstadt eine Herrschaft mit Extrapost angekommen, ein Herr mit zwei Töchtern. Sie reisten ohne Bedienung; ihre Erscheinung hatte dennoch etwas Vornehmes. Sie wollten in der Nacht nicht weiter fahren und kehrten in dem Gasthof des Städtchens ein. Der Herr, schon ältlich, hatte ein finsteres, fast menschenscheues Aussehen. Die ältere Tochter war kränklich und so hinfällig, daß der Vater sie aus dem

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