Seite:Die Gartenlaube (1860) 728.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

bleibt das Leben nicht nur ein überall gedrücktes, beengtes, sorgenvolles, sondern der Mensch wird auch, selbst bei bester Gesinnung, seinen höheren Lebensaufgaben unendlich Vieles schuldig bleiben. Er ist daher in allen Lagen des Lebens eine Grundbedingung des wahren Lebensglücks.

Gleich allen körperlichen und geistigen Kräften beruht auch der Muth auf organischer Grundlage, und zwar auf einer gewissen Festigkeit des Nervensystems, zunächst also auf Gesundheit. In kranken Tagen ist der Mensch muthärmer, als unter übrigens gleichen Umständen in gesunden Tagen, d. h. sein noch so starker und geübter Wille wird den Muth, wenngleich immer noch viel höher als beim ungeübten geistigen Schwächlinge, doch nie bis zu demselben Höhepunkte zu steigern vermögen, als ihm dies in gesunden Tagen gelingt. Dasselbe ist der Fall, wenn langedauernde Entziehung von Nahrung, von Schlaf, Ueberanstrengung der Kräfte, oder das Gegentheil, das Uebermaß von Nahrung, Schlaf und von Trägheit (Uebungslosigkeit) der Kräfte, sowie andere erschöpfende Einflüsse den Organismus geschwächt haben.

Bei all dem kann aber der gesündeste Mensch doch der furchtsamste, feigste Mensch sein, denn der eigentliche Muth wird erst erworben. Nächst jener organischen Vorbedingung gehört also, wie bei allen dem Willen unterworfenen Kräften, noch Selbstthätigkeit, Uebung hinzu, um in den Besitz des Muthes zu gelangen.

Wir wollen uns noch etwas klarer zu machen suchen, was wir unter Muth zu verstehen haben.

Wir meinen hier nicht den auf blinder Unkenntniß der scheinbaren oder wirklichen Gefahr beruhenden fälschlich so genannten Muth, auch nicht den auf niedrige oder rohe Ziele gerichteten oder den aller Ueberlegung baaren plumpen, tollkühnen Muth, denn den hat auch – der Mameluck, sondern wir meinen die wissentliche und überlegte Nichtachtung und Bekämpfung der Gefahr zu Gunsten höheres Strebens, den auf vernünftige und edle Zwecke gerichteten klarbewußten Muth. Muth ist die standhafte und für jedes edle Ziel thatbereite Willenskraft, also eine hohe Tugend und zugleich die Stütze aller übrigen Tugenden. Die mit schlechten Beweggründen verbundene Willensstärke ist Trotz oder Frechheit.

Von Natur ist der Mensch (also der rohe Naturmensch und das Kind) weder furchtsam noch muthig, d. h. er ist frei von gedachter Furcht, aber ohne activen, selbstbewußten, selbsthandelnden und schaffenden Muth. Er duselt in das Leben hinein, seinem blinden Instincte folgend. Auf einer höheren Lebensstufe angelangt, die Gefahren des Lebens erkennend und vielfach voraussehend, wird er entweder muthig oder er wird furchtsam, je nachdem er in der Kraft des Muthes sich übt oder nicht. Uebung ist die Mutter jeder Vervollkommnung. Die Uebung, Bildung, Kräftigung, Veredelung des activen Muthes fällt mit der des Willens (der Willensorgane des Gehirnes) zusammen.

Um muthigen Sinn in dem Kinde zu entwickeln, muß zeitig, schon im zartesten Alter begonnen werden.

Die erste und allgemeinste Vorbedingung für Entwickelung des muthigen Sinnes ist die, daß man das Feld vollkommen rein erhält vom Gegensatze des Muthes, von aller Art Furcht, Schreckhaftigkeit, weichlicher Empfindelei, übertriebener Scheu vor unangenehmen, aber an sich unschädlichen Sinneseindrücken, durch Anblick und Nähe gewisser Thiere, Geräusche, Temperaturdifferenzen u. s. w., sowie überhaupt von allen die geistige Kraft lähmenden Einflüssen. Vor Allem muß der natürliche passive Muth ungetrübt erhalten werden, ehe man an erfolgreiche Entwicklung des activen Muthes denken kann. Man darf die Furcht mit ihrem Gefolge nicht einziehen lassen. Des Kindes Seele ist ein weicher Boden. Jedes hineingeworfene Samenkorn haftet. Vor allen ist es das Samenkorn der Furcht, welches leicht und schnell haftet und die tiefsten, oft nie wieder austilgbaren Wurzeln schlägt, weil hier das Gefühl der noch vorhandenen Schwäche und der Mangel an Ueberlegung ausnehmend empfänglich macht. Furchterregende Eindrücke sind also die gefährlichsten Gifte für das kindliche Seelenleben.

Versetzen wir uns mit dieser Anschauung in die Kinderstuben, so machen wir darin meistentheils traurige Betrachtungen und finden hier den Keimboden von oft lebenslanger Erbärmlichkeit des Charakters, von Kleinmuth und aller Art Willensschwäche, von vorurtheilsvoller und abergläubischer Dummheit bei aller Aufklärung im Uebrigen, von sogenannter Nervosität, Hypochondrie, Hysterie etc. Hier sucht eine unverständige Wärterin durch weichliche (kraftnehmende statt kraftgebende) Hätschelei ihre verderbliche Affenliebe zu beweisen, dort – weil vernünftige Zuchtmittel im Hause unbekannt sind – durch Drohung mit schwarzen Männern und anderen Popanzen sich zu helfen oder durch Mittheilung von haarsträubenden Erzählungen, Gespenstergeschichten oder Märchen (die letzteren sind, auch wenn sie poetischen Werth haben, nur für Kinder des reiferen Alters am Platze) die Kinder zu amüsiren oder vielmehr – geistig zu vergiften. Wieder wo anders schrickt die nervöse Frau Mama bei unerwarteten Geräuschen oder bei Blitz und Donnerschlag in Gegenwart der Kinder heftig zusammen oder schreit laut auf, anstatt die Auffassung der Kinder nur für die Großartigkeit und Erhabenheit solcher und ähnlicher Naturphänomene zu gewinnen, etc. Solchen nervösen Müttern und unbedachten Eltern möchten wir zurufen: Wer seinen Kindern zu Liebe die eigenen Schwächen nicht beherrschen kann, der entziehe sich wenigstens in allen Situationen, die das Hervortreten solcher Blößen vermuthen lassen, soviel wie möglich dem Wahrnehmungskreise der Kinder, denn euer Beispiel ist es besonders, das sich in allen Beziehungen in der Seele des Kindes unauslöschlich abdrückt, so oder so!

Mit Fernhaltung der angedeuteten Furchteindrücke gehe die Forderung des eigentlichen activen Muthes, die Vornahme der Muthübungen, Hand in Hand, und zwar in sanfter Allmählichkeit den Kräften, der Altersstufe und vorausgegangenen Gewöhnung entsprechend, denn jeder natürliche Entwickelungsgang ist ein allmählich aufsteigender. Besonders gegen das reifere kindliche Alter, das 8., 10., 12. Jahr, treten die activen Muthübungen in den Vordergrund, während natürlich auch fernerhin noch auf mögliche Störungen durch Furchteindrücke geachtet werden muß, die, wenn sie ja stattgefunden, alsbald gründlich entwurzelt werden müssen.

Wenn das jugendliche Leben nicht durch Blasirtheit, Weichlichkeit, widernatürliche Etikette oder erdrückenden Schulzwang eingeengt wird, so bietet sich überall die reichste Gelegenheit zu entsprechenden Muthübungen: im jugendlichen Spiele, im Springen, im Klettern, in praktischen Leistungen aller Art, besonders wo es zugleich dem Wohle Anderer gilt, bei Knaben in harmlosen Kampfübungen etc.

Gebt den Kindern nur Freiheit unter elterlichem Auge, unterstützt und feuert an die schwachen und schüchternen, zügelt die übermüthigen – und der Muth wird in ihnen wachsen und reifen von einer bestandenen Probe zur anderen. Sie sollen, je älter sie werden, mehr und mehr die Gefahren des Lebens kennen, aber soweit möglich durch eigene Kraft abwenden und überwinden, nicht aber vor den überwindbaren fliehen, auch das unvermeidliche Ueberkommen unbesiegbarer Gefahren mit Festigkeit und Besonnenheit ertragen lernen.

Selbstverständlich wird bei allen Muthproben der Kinder auf gleichzeitige Besonnenheit und angemessene Vorsicht und da, wo es ernsten Gefahren gilt, auf die nöthige Eingrenzung des muthigen Sinnes zu achten sein. Nur ist dabei in Anschlag zu bringen, daß eine Menge von Gefahren, welche der verweichlichte, furchtsame und durch die Furcht geblendete und gelähmte Schwächling als solche noch betrachten muß, für den Muthigen, Entschlossenen, körperlich und geistig Gewandten in Wirklichkeit gar nicht mehr existiren, daß Muth, Gewandtheit und Sicherheit in Gefahren, denen ja selbst das bewachteste Leben stets ausgesetzt bleibt, eben nur durch Uebung erlangt werden, daß bei jedem Zusammenstoße im Leben der Muth an sich schon halber Sieg ist, und endlich, daß nach alter Lebenserfahrung – Gott den Muthigen am meisten beschützt.

Muth und Selbstvertrauen sind ja nicht blos wichtig als Schutz gegen Gefahren, sondern auch als die Haupttriebfedern aller Thatkraft, folglich der Lebensbestimmung überhaupt. Auf Entwickelung der eigenen Kraft ist das ganze menschliche Leben berechnet. Die Grundbedingungen dazu sind Muth und Uebung. Ihrer bedarf in vollstem Maße der Knabe, in einem nach dem Charakter der Weiblichkeit zu bemessenden Grade das Mädchen.

Wie Furcht, Kleinmuth und Aengstlichkeit die Lebenstüchtigkeit verringern, den Lebensgenuß auf jedem Schritte verbittern, Schwäche und Sünde zugleich sind, so ist umgekehrt der muthige Sinn der mächtigste Hebel für Lebenstüchtigkeit und Lebensglück. Dies erkennt Jeder, der nur ein wenig darüber nachdenkt. Er wird dabei aber auch herausfühlen, daß der muthige Sinn zugleich die Bedingung sittlicher Veredelung ist. Diesen letztgenannten und höchsten

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_728.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)