Seite:Die Gartenlaube (1860) 725.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Der Wald von Bialowicza.

Der Auerochse im Bialowiczaer Walde.

Die Zeitungen brachten unlängst die Nachricht, der Kaiser von Rußland habe in Begleitung des Großherzogs von Weimar, der preußischen, württembergischen und hessischen Prinzen den berühmten Wald von Bialowicza besucht, und dort am 18. und 19. Oct. eine Jagd abgehalten. Da vielleicht nicht vielen Lesern der Gartenlaube die eigenthümliche und interessante Beschaffenheit jenes Waldes bekannt sein möchte, so unternehmen wir es gern, mit ihnen eine Reise in den einzig noch bestehenden europäischen Urwald zu machen.

Wir besteigen in Berlin die Ostbahn und lassen uns in etwa 24 Stunden den ganzen, 100 deutsche Meilen betragenden Schienenweg entlang führen. Von Stallupoenen oder Eidtkuhnen wenden wir uns dann südostwärts, durchfahren das an jener Stelle nur schmale Königreich Polen, sowie die Herrschaft Bialystock[1] und betreten die Grenzen des litthauischen Gouvernements Grodno. Dasselbe ist circa 630 Quadrat-Meilen groß, doch nur der kleinere Theil ist angebaut und von nur 500,000 Menschen bewohnt. Wir durcheilen fruchtbare Landstriche, denen aber verhältnißmäßig ein geringer Ertrag abgewonnen werden kann, da es an Arbeitskräften zur Gewinnung derselben, sowie an Absatzquellen und Fortschaffungsmitteln noch sehr gebricht. Alles um uns her ist waldlose Ebene, und wir staunen um so mehr, da wir hier undurchdringliche Waldungen erwartet hatten. Endlich taucht am Horizont ein langer dunkler Streifen auf, er wächst von Stunde zu Stunde und erweist sich bald als ein ungeheuerer Wald. Es ist der berühmte Wald von Bialowicza, der in einer Längenausdehnung von 7 und einer Tiefe von mehr als 6 deutschen Meilen vor uns liegt. Er bedeckt einen Flächenraum von etwa 30 Q.-M.

Dieser großartige Waldcomplex liegt ganz abgesondert für sich, ja man könnte ihn einer Insel vergleichen, so umgeben ist er von Feldmarken, Dorfschaften und baumlosen Haiden. Im Innern des

  1. Die Herrschaft Bialystock stand früher unter preußischem Scepter und wurde erst im Tilsiter Frieden 1807 an Rußland abgetreten.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_725.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)