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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

unerwähnt zu lassen. Das ganze Zeugniß sei deshalb äußern und innern Gründen nach von so geringer Bedeutung, daß die Jury sich hüten möge, ein besonderes Gewicht darauf zu legen. Die vollbrachte Tödtung sei von dem Angeklagten bereits zugestanden, und so müsse die Anklage bei einem gänzlich mangelnden annehmbaren Entlastungszeugniß auf ihren ursprünglichen Forderungen stehen bleiben.

Jetzt erhob sich der Vertheidiger und begann die traurige Stellung der Anklage zu geißeln, welche, um die Idee eines eingebildeten Verbrechens aufrecht zu erhalten, kein anderes Mittel wisse, als, trotz des von der Zeugin abgelegten Eides, nicht allein die Glaubwürdigkeit derselben auf die vagsten Voraussetzungen hin zu bezweifeln, sondern sich sogar nicht scheue, in verdeckter Weise die Ehre einer achtbaren jungen Lady, welche, nur ihrem Pflichtgefühle folgend, auf dem Zeugenstande erschienen sei, anzugreifen. Zufällig sei er diesmal im Stande, fuhr er fort, die hohe Respectabilität seiner Zeugin und die gänzliche Grundlosigkeit aller Voraussetzungen seitens der Anklage nachzuweisen, und damit zugleich die Freisprechung des Angeklagten über allen Zweifel zu erheben – wolle das Gericht ihm nur erlauben, einen Zeugen zur Feststellung des ersten Zeugnisses vorzuführen, dessen Glaubwürdigkeit in dem vorliegenden Falle wohl nicht wieder beanstandet werden könne. Er wandte das Gesicht nach dem Zuschauer-Raume, und zwischen den Menschen hervor trat der alte Kreuzer. Ein Summen und Murmeln erhob sich plötzlich, der tiefe Eindruck, welchen seine Erscheinung machte, war unverkennbar. Er leistete ernst den Zeugeneid und sprach dann unter einem tiefen Schweigen der Anwesenden:

„Ich bin aufgefordert worden, als ehrlicher Mann zu sagen, was ich über das junge Mädchen hier weiß, und ich muß es thun, wie auch die Sachen stehen mögen, denn es hat noch niemals ein wahreres und besseres Kind gegeben, als sie ist; das sag’ ich, wenn ich auch, als das große Unglück über mich kam, selbst Unrecht that in meinem Schmerze. Und so sage ich auch, weil es die Wahrheit ist, daß Alles, was da von Liebesgeschichten und dergleichen geredet worden ist, ihr nur im Hasse nachgesagt werden kann. Das Kind ist nicht eine Stunde des Tags aus meinen Augen gekommen, und nach dem Picknik, wo der schreckliche Schlag über uns kam, ist sie nur gegangen, weil ich es verlangte. Ich sage, es ist das Sündhafteste, einer elternlosen Waise, der das Schicksal ihre einzige Heimath, die sie hatte, genommen, auch noch die Ehre und den guten Ruf stehlen zu wollen – mich drängt es, das zu sagen, und mein armer Heinrich, der jetzt nichts mehr von irdischer Rache weiß, wird mir Recht geben, wenn er jetzt hierher sehen kann!“

„Vater Kreuzer!“ rief in diesem Augenblicke Mary aufspringend und die Hand des Alten erfassend.

„’s ist schon recht, Kind,“ erwiderte dieser, seine Linke auf des Mädchens Kopf legend; „es hat nicht sein sollen mit uns, wie ich es mir ausgedacht hatte; das Schicksal hat eine Wand zwischen uns gezogen, über die wir Beide nicht hinaus können. Aber so lange ich es verhindern kann, sollen sie Dir wenigstens Deine Reputation nicht nehmen!“

Er trat langsam in den Zuschauerraum zurück, während Mary ihren bisherigen Platz suchte, und noch eine volle Minute lang schien der Eindruck der Scene jeden Laut unter den Zuschauern niederzuhalten.

Die Anklage hatte auf das weitere Wort verzichtet, die Jury hatte sich nicht einmal von ihren Plätzen erhoben, sondern nach kurzem Wispern das „Nicht schuldig!“ durch ihren Vorsitzenden verkünden lassen, und der Angeklagte war im Nu von zahlreichen Freunden umringt, die, fast ehe noch der Richter die Verhandlung geschlossen, ihn in ihrer Mitte davon führten. Auch der Vertheidiger war dem allgemeinen Zuge gefolgt und Mary sah sich plötzlich allein, bis sie endlich ihre Freundin Lucy sich nach ihr durchdrängen sah.

„O, Mary, es war so rührend, und Du hast so viele Freunde gewonnen!“ rief diese ihre Hand fassend. Jetzt erschien aber auch der Vater der Sprechenden, nahm mit einem herzhaften: „So mußt’ es kommen!“ gegen Mary die Arme der beiden Mädchen unter die seinigen und führte sie zwischen den davon strömenden Menschen aus dem Saale.

„Ich denke, wir lassen jetzt die Osborne’s wo sie sind,“ sagie er, als das Courthaus hinter ihnen lag, „sie werden doch sobald von ihren Freunden nicht loskommen, und das Beste ist, wir fahren gleich nach Hause!“

„Nur noch einen Augenblick, Sir!“ rief Mary, ihren Arm frei machend. Sie sah den alten Kreuzer soeben unweit über die Straße gehen und war mit einigen Schritten an seiner Seite. „Vater Kreuzer, ich habe Dir noch nicht gedankt!“ begann sie, seine Hand ergreifend, „und wie geht’s zu Hause?“

Der Alte sah ihr trübe in das erregte Gesicht. „Du hast nichts zu danken, Kind,“ sagte er, „ich kam ja nur der Aufforderung Eueres Advocaten nach, um wieder in etwas gut zu machen, daß ich in meinem Leide Dich so allein in die Welt hinausgeschickt hatte. – Es geht nicht gut daheim, Mary,“ fuhr er den Kopf schüttelnd fort, „die Mutter, weißt Du, hat sich beinahe nur von der Hoffnung genährt, den James hängen zu sehen; dabei ist sie aber jeden Tag schwächer geworden und liegt nun schon seit ein paar Tagen fest. Sie hat mich gestern und heute in die Stadt getrieben – was aber mit ihr werden wird, wenn sie hört, daß der James Osborne ganz frei ausgegangen – und ich habe doch vor Gott und meinem Gewissen nicht anders handeln können – weiß ich nicht. Ich habe so einen Gedanken, Alles zu verkaufen und hinüber nach Missouri zu ziehen, wo das Land noch besser sein soll als hier herum – wir werden ja sehen, wie Alles kommt!“ Er nickte dem Mädchen trübe zu und schritt seines Weges weiter. –

Mary war mit ihren Freunden auf deren Farm angekommen, aber noch ehe eine Viertelstunde verstrichen war, hielt auch Osborne’s Wagen vor dem Thore der Einzäunung. Ein nervöses Zittern überkam das Mädchen, als sie von ihrer Kammer aus den Major und dessen Sohn auf das Haus zukommen sah. Als aber Lucy zu ihr hereinsprang, um sie von dem Besuche und dessen Wunsche, sie zu sehen, zu benachrichtigen, deutete nur noch eine tiefe Blässe ihre innere Erregung an.

Als sie die Vorderstube betrat, in welcher die Familie die Angekommenen umringte, eilte ihr James mit ausgestreckten Händen entgegen. „O, es war unrecht, Miß Mary, daß Sie sich so schnell davon machten, ohne uns nur ein Wort zu Ihnen zu gönnen!“ rief er. Dann aber, wie von ihrem Ernste betroffen, sah er ihr zwei Secunden lang schweigend in die dunkeln Augen. „Haben Sie denn keinen Gruß für mich, Mary?“ fragte er endlich.

„Es ist vielleicht das Beste, Mr. Osborne,“ erwiderte sie gedrückt, während ein leises Roth in ihre Wangen stieg und wieder ging, „wir haben überhaupt keinen Gruß mehr für einander. Sie erhalten sich damit die Zufriedenheit Ihres Vaters, und ich werde nicht mehr nöthig haben, um meinen guten Namen fürchten zu müssen!“

Sie sah ihm mit einem so bestimmten und doch so schmerzlichen Ernste in die Augen, daß ihm das Wort auf der Zunge zu sterben schien.

„Mary, ich weiß nicht ganz, was Sie meinen. Ich weiß aber doch, daß ich jetzt nicht so von Ihnen gehen kann!“ sagte er endlich, ihr auf’s Neue die Hand entgegenstreckend.

„Gehen Sie nur, Mr. Osborne,“ erwiderte sie, leicht ihre Hand in die seine legend, „und wenn Sie wirklich glauben, mir etwas schuldig zu sein, so lassen Sie dies als unsern Abschied gelten!“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich aber plötzlich um und schritt aus dem Zimmer.

Der alte Major hatte mit steif zusammengezogenen Augen die Scene beobachtet. Der Farmer aber, als habe er kaum etwas Anderes erwartet, nickte nur mit dem Kopfe, als sich die Thür hinter dem Mädchen schloß.

Als Lucy der Freundin nach einigen Minuten folgte, fand sie die Kammerthür verschlossen, und erst am späten Nachmittag kam Mary mit rothgeweinten Augen wieder zum Vorschein. – Niemand im Hause aber schien es zu bemerken, keine Andeutung des stattgehabten Auftritts fiel, und erst mit beginnendem Abend drückte Lucy mit vielsagendem Blicke der Freundin ein kleines Couvert in die Hand. „Ich habe es soeben von ihm!“ flüsterte sie und wandte sich wieder davon.

Mary stand und hielt das erhaltene Papier, als dürfe sie kaum die Finger darum schließen. Als sie sich aber allein sah, stieg sie nach der gemeinschaftlichen Kammer hinauf, verschloß die Thür von Neuem und öffnete dann mit einem leisen Beben ihrer

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