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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 43. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Mary Kreuzer.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Eine heitere Sonne war am Morgen über dem Trauerhause aufgegangen, als das Mädchen von ihrem Lager auffuhr. Es konnte nicht mehr früh sein, und doch schien sich in dem Hause noch nichts zu regen. Eine kurze Minute lang saß sie horchend auf ihrem Bette, dann rief sie sich alle durchlebten Ereignisse vor die Seele, sich sammelnd und festigend, ordnete hierauf ihren Anzug und nahm leise ihren Weg die Treppe hinab.

In der Küche herrschte wirre Unordnung; gebrauchte Kaffeetassen und Teller standen umher, das Kochgeschirr befand sich zerstreut am Boden, und der Ofen sah der Eintretenden mit ungeschlossenen Oeffnungen entgegen. Es schien während der Nacht für eine ganze Gesellschaft gekocht worden zu sein und die Magd noch von ihrer Anstrengung zu ruhen.

Einen Augenblick stand Mary unschlüssig, dann aber machte sie sich mit möglichster Vermeidung von Geräusch an’s Aufräumen. Eben raffte sie das umherliegende Holz zusammen, um Feuer anzuzünden, als sich die Thür nach dem Vorderzimmer aufthat und der alte Kreuzer in der Oeffnung erschien. Seinem ganzen Aussehen nach war er während der Nacht in kein Bett gekommen, noch trug er die Sonntagskleider, welche er zum Picknick angelegt, auf dem Kopfe saß sein Filzhut zerdrückt und verbogen, und das Gesicht erschien grau und erschlafft. Ein Blick voll tiefer Trübsal fiel in Mary’s aufschauendes Auge und machte deren Herz fast zittern vor Wehmuth über die gebeugte Gestalt des sonst so kräftigen alten Mannes.

„Es ist gut, daß Du da bist, Mary,“ begann er nach einer kurzen Pause, „komm herein, es müssen ein paar Worte gesprochen werden, ehe Weiteres geschieht.“

Er wandte sich in die Stube zurück und ließ, als das Mädchen ihm folgte, sich matt auf einem Stuhle nieder.

Im Schaukelstuhle neben dem noch unberührten Bette saß zurückgelehnt die Frau; die gerötheten Augen waren eingesunken und trocken, aber der matte Blick begann ein fast unheimliches Leben zu gewinnen, als sie ihn nach der Eintretenden wandte.

„Ich möchte über ein paar Umstände Auskunft haben,“ begann der Alte wieder, „sie können in dem furchtbaren Schicksale, das über uns gekommen ist, nichts ändern, denn todt ist todt –“ er hob beide Hände und preßte sie gegeneinander, als wolle er dadurch den neu in ihm aufsteigenden Schmerz zurückdrängen, „aber sie können helfen, daß der Coroner,[1] der bald hier sein wird, schnell klar sieht und mein armer Junge wenigstens ohne lange Umschweife seine Genugthuung bekommt. – Du hast selbst gesagt, Mary, als Du unter die Leute stürztest, daß James Osborne den Heinrich niedergeworfen und zum Tode gebracht habe – alle meine Nachbarn haben es sich auch die ganze Nacht kosten lassen, um den Mörder zu fangen; er hat sich aber selbst an das Gericht ausgeliefert, vermuthlich weil er auf das Geld seines Vaters pocht; aber alle Reichthümer sollen ihn nicht retten, denn im schlimmsten Falle können die Deutschen selber die Gerechtigkeit in die Hand nehmen. Aber ich wollte sagen,“ fuhr er wie sich sammelnd fort, „Du bist die Einzige gewesen, die mit angesehen, was vorgegangen ist – die Leute haben Dich mit James Osborne in den Wald gehen sehen – jetzt möchte ich nun zuerst von Dir selber hören, was Du dort mit dem Menschen zu thun gehabt – ich habe nachher wohl einen Begriff, wie das Uebrige gekommen sein mag –“

„Frage doch nicht erst lange!“ unterbrach die Alte, sich langsam aufrecht setzend, den Sprechenden, „der junge Kuckuk, der im Hänflingsneste ausgebrütet ist, hackt zum Dank auf seine Pflegemutter los, und was kümmert sich so ein Mädchen, das nicht unser Fleisch und Blut ist, das kein Herz für ihre neue Heimath hat, darum, ob sie uns alten Leuten die Seele zerreißt? Sie ist mit dem Osborne gegangen, weil es ihr so gefallen, weil sie sich nichts um uns zu kümmern hat, vielleicht weil sie’s dem Heinrich, der auf unsere Ehre hält, recht vor das Gesicht hat stellen wollen, daß Kreuzer’s Sachen nicht ihre Sachen sind – ach, allbarmherziger Gott!“ unterbrach sie sich zurücksinkend, und ein kurzes, krampfhaftes Schluchzen stieg aus ihrer Brust, während die Augen, die keine Thränen mehr zu haben schienen, sich nach der Decke richteten, „das ist der Fluch und die Strafe, daß man mit Gewalt verlangt, was der Himmel versagt hat, und fremdes Blut zum eigenen machen will –“

„Mutter, laß es gut sein jetzt!“ fiel ihr der Farmer in die Rede, während ein leiser Zug von Mißbehagen sich durch den Schmerz in seinen Mienen drängte, „laß sie erst reden, und wir werden dann sehen!“

Mary stand bewegungslos auf der Stelle, welche sie nach ihrem Eintritte eingenommen, ihr Gesicht war bei den Worten der Frau von Secunde zu Secunde bleicher geworden, und als sich jetzt Kreuzer nach ihr wandte, traf er auf denselben eigenthümlichen Ausdruck von Starrheit in ihren Zügen, der ihn an sein erstes Begegnen mit ihr in New-York erinnern mußte.

„Sprich, Mary,“ fuhr er fort, „und fürchte dich nicht!“

  1. Der für die erste Untersuchung aller ungewöhnlichen Todesfälle angestellte öffentliche Beamte.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_673.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2017)