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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Culturstufe und Volksdichtigkeit keine Schwierigkeit. An Transportmitteln, todten und lebenden, gebricht es nicht; die gesetzliche Zahl der Trainpferde für Auszug und Reserve ist 6106. Dem Transportwesen stehen bereits über 200 Stunden Eisenbahn zu Gebote; für rasche Mittheilung sorgen 553 Stunden Telegraphenlinien. Die Schweiz ist demnach vollkommen im Stande, ein beträchtliches Operationsheer aufzustellen und zu unterhalten.

Die ausgezeichneten militärischen Fähigkeiten der Schweizer sind weltkundig. Ihr Leben in rauher Gebirgswelt, ihr steter Kampf mit Naturhindernissen stählt Leib und Seele. Geschickte Benutzung der Bodenverhältnisse wird von früh auf praktisch erlernt. Körperliche Kraft und Gewandtheit, Marschfertigkeit, Leichtigkeit, grosse Lasten zu tragen, solche Eigenschaften sind allgemeiner verbreitet, als in andern Ländern. Sogar die Fabrikarbeit hat bei weitem nicht so viel körperliche Abschwächung erzeugt, als z. B. in England, weil der schweizerische Fabrikarbeiter in der Regel auch etwas Landbau treibt. Der physische Muth des Schweizers wird von keinem Volke übertroffen, und schwerlich auch der moralische; denn der Schweizer ist sein eigener Herr und kämpft für Freiheit und Vaterland. Da das Volksschulwesen in Breite und Tiefe den ersten Rang der Welt einnimmt, da deshalb die durchschnittliche Massenbildung größer ist als irgendwo, da überdies die republikanische Verfassung geistige Selbstständigkeit erzeugt, so kommt diese doppelte Erziehung durch Schule und Leben auch dem Krieger in vorzüglichem Grade zu Statten.

In der Schweiz kann jeder Wehrmann sich als Aspirant zum Unterofficier oder Officier melden, und wird nach Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften ernannt und befördert. An Candidaten ist kein Mangel. Die Unterofficiere werden in der Regel von den Compagniechefs ernannt, die Officiere durch die Militärdirection der Cantonalregierung. Die Officiere der Specialwaffen müssen jedoch in der eidgenössischen Militärschule den vorgängigen Unterricht erhalten haben. Der eidgenössische Stab, in welchem die Führerschaft gipfelt, zählt gegenwärtig 532 Mitglieder, nämlich 250 Officiere und 282 Nichtcombattanten. Zu den Ersteren gehören 87 Obersten und Oberstlieutenants, und unter den übrigen Graden auch eine beträchtliche Anzahl Subalternofficiere, aus denen sich die eidgenössischen Obersten ihre Adjutanten wählen. An der Spitze des Generalstabs stehen 40, des Geniestabs 2, des Artilleriestabs 4 Obersten. Der Justizstab besteht aus 43, der Commissariatsstab aus 80, der Gesundheitsstab (mit einer Abtheilung für Veterinärwesen), aus 112 Personen; außerdem gibt es 47 Stabssecretaire.

Die eidgenössischen Stabsofficiere werden vom Bundesrath (Militärdepartement) bis zum Hauptmann nach dem Dienstalter ernannt, die höheren nach freier Wahl aus denen, die wenigstens zwei Jahre im nächstunteren Grade gedient haben. Ausnahmen hiervon sind bei vorzüglicher Befähigung oder für ausgezeichnete Dienste gestattet. Die Cantonsregierungen, der Oberbefehlshaber, die Inspectoren der verschiedenen Waffen und die Stabsabtheilungschefs sind berechtigt, für alle Grade Vorschläge zu machen. Bei Aufstellung eines Bundesheeres werden der Oberbefehlshaber (General) und sein Stellvertreter, der Chef des Generalstabs, von der Bundesversammlung in der Regel aus der Zahl der eidgenössischen Obersten ernannt. Das Gesetz hat dem General eine sehr ausgedehnte, fast dictatorische Machtvollkommenheit gewährt.

Entsprechend den Eigenthümlichkeiten eines Volksheeres, vornehmlich in der Schweiz, wo wegen des durchschnittenen Bodens und aus andern Gründen die taktischen Einheiten klein sind, ist die Zahl der Officiere größer, als in stehenden Heeren, etwa das englische ausgenommen, und es steht daher auch eine beträchtliche Officierreserve zu Gebote. Weil aber die Anlässe zur Einübung des militärischen Befehlens und Anordnens nur zeitweise und nicht häufig wiederkehren, so ist verhältnißmäßig die Führung im eidgenössischen Heere derjenige Punkt, wo noch am meisten Verbesserung noth thut, hauptsächlich bei den Bataillons- und Compagnieführern, denen nur spärliche Gelegenheit zur Uebung geboten wird. In der Schweiz selbst hat man hiervon ein sehr klares Bewußtsein und sucht auf alle Weise den Mängeln möglichst abzuhelfen. Officiere und Unterofficiere sind redlich bemüht, sich einzeln und in Vereinen militärisch weiterzubilden. Von Bundeswegen wird der Besuch ausländischer Manöver und Kriege aufgemuntert und durch Geldmittel unterstützt. Eine ziemliche Zahl von Officieren ist amtlich mit allerlei Berathungen und Berichterstattungen über militärische Gegenstände beschäftigt. Während der guten Jahreszeit sind alle Cantone mit einem Netze von Rekruten- und Wiederholungscursen aller Waffen überzogen; an der Spitze steht dis große Centralschule zu Thun. Seit einiger Zeit werden auch die Uebungslager und größeren Truppenzusammenzüge jährlich abgehalten; die sparsamen Finanzleute haben sich endlich in die von den Militärs beharrlich gepredigte Nothwendigkeit häufigerer Uebungen fügen müssen. Schließlich darf man nicht vergessen, daß die besten Führer erst im Kriege selbst hervortreten. „Nur der Krieg lehrt den Krieg.“

Begreiflicher Weise läßt sich das schweizerische, wie jedes Milizheer, zu einem auswärtigen Eroberungskrieg nicht gebrauchen, oder vielmehr mißbrauchen. Das Milizheer ist keine gedanken- und willenlose Heerde. Beim Ausrücken im Winter 1856/57 hielt Regierungsrath Schenk an die Berner Mannschaft folgende Ansprache: „Ich bin beauftragt, Euch, die Ihr für die Eidgenossenschaft in’s Feld ziehen sollt, zunächst mit dem Zwecke der Truppenaufstellung bekannt zu machen und sodann den Kriegseid Euch abzunehmen. Es ist das Vorrecht des freien Schweizers, zu wissen, warum und wofür er in’s Feld zieht. Fürstenmilitär wird ausgehoben, mobilisirt und fort in fernen Kampf geschickt, und es vernimmt nur das Eine, daß der Fürst es so haben will. Dem freien Manne sagt man zu allererst, welche Sache es ist, die ihn unter die Waffen ruft.“ (Folgte dann eine Auseinandersetzung der Sachlage.)

So wenig auch das Milizheer zum Erobern geschickt ist, eignet es sich doch vollkommen zur Vertheidigung. Durch seine eigenthümlichen Vorzüge hält es gegen die handwerksmäßige Ueberlegenheit des stehenden Heeres sehr wohl Stand. Allerdings wird es am sichersten gehen, wenn es den von Schulz-Bodmer aufgestellten Grundsatz befolgt: „Soll ein Milizheer im Kampfe mit stehenden Armeen einige Wahrscheinlichkeit des Siegs für sich haben, so muß es unter übrigens gleichen Umständen dem Feinde an Zahl überlegen sein.“ Aus dieser Ueberzeugung entwickelt der genannte Militärschriftsteller die Nothwendigkeit, das schweizerische Operationsheer zu verstärken, hauptsächlich durch Fußvolk, und verlangt für die Schlacht möglichste Dichtigkeit und Tiefe der Aufstellung, sowie Bereithaltung einer starken Reserve. Er spricht sich für Verstärkung der Compagnien mit einem dritten Gliede aus und glaubt, daß sich dazu schon von Freiwilligen eine genügende Anzahl finden würde. Nach seinem eigenthümlichen Vorschlage würde das dritte Glied aus Pikenieren (mit Pike, kurzem Schwert und Pistole) und Pionieren bestehen, welche letztern für die Verschanzung, zum Wegtragen der Verwundeten und zur Auffüllung der vorn entstehenden Lücken verwendet würden. An Waffen für die Verstärkung des schweizerischen Operationsheeres würde es nicht fehlen; alle Cantone haben in ihren Zeughäusern eine bedeutende Menge überzähliger Handfeuerwaffen und Geschütze, und außerdem befinden sich viele Waffen im Privatbesitz. Kein Land kommt in Hinsicht auf Waffenvorrath der Schweiz gleich.

Die Schweiz würde sehr schwach sein, wenn sie die europäische Soldatenthorheit mitmachte. Was sollte sie wohl mit einem stehenden Heere von 35 bis 40,000 Mann ausrichten? Aber Dank dem Milizsystem kann sie ein Operationsheer von 180,000 Mann in’s Feld stellen und im Nothfall über eine Wehrkraft (ohne Landsturm) von 270,000 Mann verfügen.

Mit leichter Mühe läßt sich ermessen, was Deutschland an innerer Wohlfahrt und äußerer Kraft gewinnen könnte, wenn es dem Vorbilde des freien Schweizervolkes nachstreben wollte.

Nach den Vergleichungen, die Kolb zwischen der Schweiz und einigen deutschen Staaten anstellt, gibt Baiern für das Militärwesen über 10 Mill. Gulden aus, würde aber im Verhältnisse zur Schweiz mit dem dritten Theil dieser Summe auskommen und dafür eine weit größere Waffenmacht besitzen. Würtemberg und Großherzogthum Hessen, welche zusammen etwa 2,600,000 Einwohner zählen, also 200,000 mehr als die Schweiz, machen mit 3 Mill. Thlr. Militärkosten kaum 40,000 Mann marschfertig, während die Schweiz mit 11/2 Mill. Thlr. 180,000 Mann erzielt. Mit derselben Summe, wofür Würtemberg nebst Hessen einen Mann aufstellt, nämlich 75 Thlr., läßt die Schweiz zehn Mann marschiren. Baden gibt noch einige hunderttausend Thaler mehr aus, als die Schweiz, um im Ganzen kaum 20,000 Mann zu halten. Hannover, Braunschweig und Oldenburg, zusammen mit gleicher Seelenzahl wie die Schweiz, liefern für 4 Mill. Thlr. 40,000 Mann.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_585.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)