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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Erzählung. Darum sind auch die Darsteller nicht Schauspieler in unserm gewöhnlichen Sinne; sie gehn nicht darauf aus, Charaktere zu entwickeln und darzustellen, sondern die Personen, deren Namen sie tragen, in möglichster Uebereinstimmung mit dem Ganzen der Begebenheiten vorzustellen. Das leisten sie auch in ausgezeichneter Weise, und es dürfte schwer sein, irgend etwas zu bemerken, was die Uebereinstimmung der Begriffe oder Ideale, die wir von Christus, Maria etc. haben, mit dem Vorgestellten aufzuheben oder zu stören vermöchte. Der Gemeindevorsteher Rupert Schauer ist nicht nur persönlich für die Rolle des Christus sehr geeignet, sondern führt sie auch mit einer Hoheit und Würde aus, die nichts zu wünschen übrig läßt. Dabei muß nebenher bemerkt werden, daß diese Rolle auch ein bedeutendes Maß körperlicher Anstrengung erfordert, indem z. B. durch das Hängen am Kreuze die Hände ganz blau und starr werden. Nach ihm ist der Zeichnungslehrer Flunger zu nennen, der früher den Christus, jetzt den Pilatus vorstellt. Er scheint der Schauspielgewandteste zu sein und gibt den feiner gebildeten ungläubigen Römer so vorzüglich, daß gegenüber den leidenschaftlichen Juden ein höchst wirksamer Gegensatz entsteht. Das bekannte inhaltsschwere Wort: „Was ist Wahrheit?“ kann kaum wahrer gesprochen werden. Inneres dramatisches Leben hat eigentlich nur Judas, denn nur er schreitet in der Entwickelung des Charakters von der Habsucht zum Verrath, von der Reue zur Verzweiflung fort. Dies kommt auch im Spiel zum Ausdruck, natürlich in den etwas derben, aber wahren Umrissen, wie sie in der Dichtung gegeben sind.

Maria wird von Barbara Schaller, Magdalena von Therese Lang dargestellt, einfach und schlicht weiblich, wobei nur die etwas hoch liegenden Organe Eintrag thun; minder bei Magdalena, deren Stimme demungeachtet einen elegisch weichen Klang hat. Auch die Sänger und Sängerinnen müssen noch in allen Ehren erwähnt werden: sie sind trefflich eingeschult, singen rein und präcis und zählen unter sich einige Stimmen, namentlich zwei Tenore, zwei Bässe und einen Knaben-Alt, deren naturfrische Kraft den Neid mancher großen Oper erwecken dürfte, zumal wenn man bedenkt, daß sie in einem völlig unbedeckten Raume singen und doch, ohne zu schreien, den ganzen Zuschauerraum ausfüllen.

Der Gesammteindruck des Ganzen ist hiernach nur ein würdiger; er zeugt von einem kaum glaublichen Eifer, von einer Ausdauer und Genauigkeit, welche sich nur dadurch erklärt, daß jeder Mitwirkende mit Kopf und Herz dabei und das vollständige Gelingen für Jeden eine Ehrensache ist. Die Stille des Auditoriums, seine Hingerissenheit sind die beste Probe dafür, und wenn hie und da, z. B. beim Tode des Judas, oder bei der Verleugnung des Petrus, ein frisches Lachen darüber hinschwebt, so gilt es nicht dem Dargestellten oder der Darstellung, sodern es ist eine Art moralischer Genugthuung, die sich der Schlechtigkeit und der Feigheit gegenüber geltend macht.

Nach diesem kurzen Rückblicke auf die Passionsvorstellung selbst möchte noch Einiges über deren Entstehung und Erhaltung nachgetragen werden. In ersterer Hinsicht wird erzählt, im Jahre 1633 habe in der Umgegend von Ammergau eine ansteckende tödtliche Krankheit, das wilde Kopfweh genannt, eine Menge Menschen hinweggerafft, Ammergau aber sei in Folge der getroffenen Vorsichtsmaßregeln davon verschont geblieben, bis ein auswärts arbeitender Tagelöhner sich heimlich in’s Dorf geschlichen habe, um das Kirchweihfest mit den Seinigen zu feiern. Er brachte die Krankheit mit, die bald ihn und eine große Anzahl von Bewohnern tödtete, sodaß die übrigen das Gelübde ablegten, sie wollten, wenn sie von der Seuche befreit würden, alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Jesu öffentlich aufführen. Die Krankheit erlosch, und 1634 fand die erste Passionsvorstellung statt. Daß die Ammergauer gerade ein solches Gelöbniß machten, deutet darauf zurück, daß solche dramatische Aufführungen damals in Deutschland und insbesondere in den südlichen Theilen desselben und in den Gebirgen eine regelmäßige Erscheinung waren. Bekanntlich war der älteste christliche Gottesdienst, der (wie noch jetzt in Palästina) Abends begann und zu Mittag endete, rein dramatisch, und als diese Bestandtheile allmählich immer mehr ausgeschieden wurden, bildeten sich aus ihnen die biblischen Komödien, die anfangs in den Kirchen selbst, dann auf den Kirchhöfen, dann bei öffentlichen kirchlichen Aufzügen gegeben wurden, und aus welchen sich schließlich die Mysterienspiele des Mittelalters entwickelten.

Durch den dreißigjährigen Krieg verscheucht und zerstört, hatten sie in Deutschland eine Zuflucht bei den Tyrolern und den Bewohnern der bayerischen Gebirge gefunden und wurden dort an verschiedenen Orten mit großem Eifer gepflegt, bis die veränderten Anschauungen des vorigen Jahrhunderts ihnen durch Verbote ein Ende machten. Nur die Oberammergauer erwirkten von dem leutseligen König Max I. eine Ausnahme von diesen Verboten, und dieser Ausnahme ist es zu verdanken, daß in Deutschland die Möglichkeit gegeben ist, ein deutsches Mysterienspiel, wie sie um 1500 herum allgemein üblich waren, mit wenigen Aenderungen lebend und wirklich vor sich zu sehen. Ohne Zweifel haben die Ammergauer die Passion schon früher gespielt, aber sie mochte in Vergessenheit gerathen sein, und das Gelübde erklärt sich sonach als Wiederaufnahme derselben. Dafür spricht auch der noch vorhandene Urtext, welcher in seinem ganzen Wesen auf eine viel frühere Entstehungsperiode, als jene des dreißigjährigen Krieges ist, zurückweist. Derselbe ist ursprünglich wohl von einem Klostergeistlichen verfaßt, wie denn die Benediktiner von Ettal und dann die jeweiligen Pfarrer von Ammergau die mehrfachen Bearbeiter desselben wurden, ihn kürzer und zeitgemäßer einrichteten und insbesondere von den Teufeln und lustigen Personen befreiten, die in keinem echten Mysterium fehlen durften. Daß das so Entstandene so treu bewahrt, mit solcher Anhänglichkeit festgehalten wurde, liegt, abgesehen von der gestatteten Ausnahme und dem religiösen Sinne der Bevölkerung, welche die Aufführung zur Erfüllung des Gelübdes ihrer Vorfahren noch immer als ein frommes Werk vollbringt, in der schon am Eingange angedeuteten künstlerischen Befähigung und Beschäftigung derselben und in der beständigen Schauspielübung, in welcher sie durch eine im Schulhause befindliche ständische Bühne erhalten wird, auf welcher in der Zwischenzeit allerlei Stücke aufgeführt werden. Während dadurch Allen Gelegenheit gegeben ist, einen höhern Grad von Darstellungsfähigkeit zu erlangen, lebt in ihnen „der Passion“ und seine Spielweise als ein ihnen allein anvertrautes Kleinod in treuster Ueberlieferung fort, und man kann wohl sagen, daß sie in das Spiel förmlich hineinwachsen, wie denn auch ein großer Theil der Gruppirung und vielfach auch die Action das Gepräge der Tradition unverkennbar an sich trägt. Die Kinder beginnen im Arme ihrer Mutter, die eine Matrone von Jerusalem darstellt, sie rücken dann zu Kriegsknechten, zu Mitgliedern des hohen Raths, zu Priestern und schließlich zu Aposteln vor. Daher kommt es, daß einzelne Darsteller oft sehr bejahrt sind, wie z. B. 1850 der vielmalige Johannes schon über 60 Jahre, Barabbas aber 80 zählte und von Jugend auf diese liebenswürdige Rolle gespielt hatte. Manche Rollen sind auch geradezu erblich, wie jene des Judas, die schon mehrmals vom Vater auf den Sohn übergegangen ist. Aus all’ diesem spricht aber als hauptsächlichster Hebel der Erhaltung der gesunde Sinn des Volks, seine innere selbständige Kraft, seine so oft und mit so grobem Unrecht bezweifelte Fähigkeit zu Allem.[1]

Der Text an sich ist in seinem gesprochenen Theile vielfach rein aus Worten der Bibel zusammengesetzt; der übrige Dialog ist einfach und ohne allen Schmuck; hier und da allerdings von großer Naivetät, wie z. B. der seinen Herrn verleugnende Petrus „bei seiner Ehre“ betheuert, er kenne diesen Menschen nicht. Nirgends aber sinkt die Diction zum Platten oder Niedrigen herab, und selbst in den etwas steifen Wechselreden der Priester und Schriftgelehrten ist eine gewisse altväterische Würde nicht zu verkennen. Von den Versen der Chorgesänge läßt sich das nicht behaupten, denn die meisten davon sind für ein an Reinheit der Form gewöhntes Ohr von Wohlklang sehr weit entfernt.

Die Musik zum Ganzen, wohl ebenso umfangreich wie ein großes Oratorium, hat den Ammergauer Rochus Dedler zum Verfasser, der daselbst als Lehrer ziemlich jung starb und von der Dankbarkeit seiner Landsleute durch eine Ehrensäule über seinem Grabe ausgezeichnet ward. Sie ward ihm nicht mit Unrecht, denn das Tonwerk zeugt von nicht gewöhnlicher Begabung und ist, wenn auch nicht im hohen Style von Bach oder Händel, so doch

  1. Um auf die praktische Seite dieser Passionsspiele zu kommen, so dürfte die Mittheilung nicht uninteressant sein, daß die diesjährige Saison eine sehr ergiebige sein wird. Man spricht von 40–50,000 Gulden, die trotz der schlechten Witterung bereits eingegangen sind. Davon werden jetzt schon 25,000 Gulden auf die Mitspielenden vertheilt, 8-10,000 Gulden für gemeinnützige Zwecke der Gemeinde, der Rest für Garderobe, Malerei, Musik etc. verwendet.
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_551.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)