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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

als er ihre Frage: „wer ist da wieder?“ vernahm. Ironisch antwortete er: „Ich bin’s, wenn Du mich aber nicht sehen magst, will ich nicht stören.“

„O William, welcher Einfall!“ rief Hermine letztlich erschrocken; denn schon war sie so zaghaft geworden, daß sie seine unverhoffte Rückkehr einem Unglücksfalle zuschrieb. „Warte nur einen Augenblick,“ fügte sie bittend hinzu, während sie hastig die Arbeit zusammenschlug und in dem Spiegelschrank verschloß. Sie öffnete hierauf eiligst die Thüre und trat dem argwöhnischen Gatten bleich, aber mit einem Engelslächeln entgegen, indem sie in seinem finstern Gesichte nach der Ursache forschte, die ihn sobald zurückgeführt hatte. Sein Aussehen schien ihre schlimmen Ahnungen zu bestätigen. Auch er war bleich wie der Tod, und seine Augen blickten wirr und irrten nach einem Streifblick in ihre verlegenen Züge im Zimmer umher und in das andre hinein, noch bevor er ein Wort sagte.

„Lieber William, was ist Dir widerfahren?“ fragte Hermine, und ihre Angst stieg, als er, statt hierauf zu antworten, mit erkünstelter Freundlichkeit fragte:

„Was ist denn Schönes in der antiken Kiste enthalten, die dort so sorgfältig auf den guten Teppich placirt ist?“

„Sie ist für Dich gebracht, lieber William, und hier ist auch ein Brief,“ sagte Hermine sanft, obgleich in tödtlicher Angst über sein Benehmen.

„Was!“ schrie er mit einem Zornblicke auf die Adresse. „Und Du denkst mich glauben zu machen, daß Du diese Hand nicht kenntest? O, daher Deine wieder gerötheten Augen! daher die verriegelte Thüre und das Schließen des Schrankes! daher Deine Blässe und sichtliche Angst! Verstelle Dich nicht länger, ich ahne, ich weiß Alles. Du hast einen Brief von derselben theuren Hand, von dem Dein Gatte nichts wissen darf und soll. Also dieser liebe, gute, redliche Harry lebt noch und hat doch in den ganzen vier Jahren sich weder um seine zweite Mutter noch um seine ihn so treu und innig liebende Cousine bekümmert?“

Hermine horchte anfangs mit sprachlosem Erstaunen auf William’s Worte, aber kaum verstand sie daraus, daß Harry noch lebe, als sie für nichts weiter Sinn noch Verständniß hatte. „William! mein bester William!“ rief sie, „Harry lebt? der Brief ist von ihm? So erbrich ihn doch und laß uns lesen was er schreibt!“

William wehrte sie mit herrischer Gebehrde von sich ab, als sie unwillkürlich die Hand nach dem Schreiben ausstreckte. „Ja, der Brief ist von Harry,“ sagte er höhnend, „aber dieser ist an mich, und ich halte es wie Du, ich lese auch meine Briefe allein für mich, wenn auch nicht bei verschlossenen Thüren.“ Dabei erbrach er das Couvert, aus welchem auch ein Schreiben an Herminens Mutter herausfiel. Er griff danach, besah die Aufschrift und überreichte es ihr mit einer höflichen Verbeugung, indem er hinzufügte: „Den bringst Du wohl gern selbst und allein an die Adresse.“

Die Schilderung der Gedanken und Gefühle, die während dieser qualvollen Minuten Herminens Kopf und Herz durchirrten, würde mehr Raum erfordern, als dieser Erzählung gewidmet ist. Genug, als William schwieg, stand Hermine hochaufgerichtet vor ihm, und ihn mitleidvoll anblickend, sagte sie: „William, Du bist kein guter Mensch!“ Dann nahm sie den Brief für ihre Mutter und ging damit zur Thüre hinaus.

Als diese sich hinter ihr schloß, sank William in Verzweiflung zurück. Jetzt sollte er den Unterschied zwischen eingebildetem und wirklichem Unglück gewahr werden, indem er fühlte, daß er in Wahrheit nie an Herminens Liebe gezweifelt, und daß er ihre Verachtung nicht überleben könnte. Endlich erbrach er den an ihn gerichteten Brief und hoffte darin wenigstens etwas zu finden, was ihm einen, wenn auch nur scheinbaren Grund zu so wahnsinnigem Benehmen hatte geben können.

Flüchtig überlief er die Schilderung der Erlebnisse seines Jugendfreundes, die sich hierzu allerdings nicht eigneten. Dem armen Harry war es ergangen wie so vielen Anderen, die nach Amerika gehen, um dort reich zu werden, und nichts Andres dahin mitbringen als kaufmännische Kenntnisse, an denen dort kein Mangel ist. „Köpfe habe ich genug und bessere als Du, wenigstens schlauere,“ ruft die neue Welt vergebens der alten zu, „sende mir nur noch tüchtige Arme.“ Mehr als zwanzig Rollen hatte Harry durchgemacht, nur um nicht zu verhungern. Von Ost nach West, von Nord nach Süd war er gewandert, bis er sich zuletzt in Toledo, einer neu gegründeten Stadt, niederlassen konnte. Hier hatte er in Compagnie mit einem jungen deutschen Arzte ein Drogueriegeschäft errichtet, in welchem sie zugleich als Apotheker, Liqueurfabrikanten und Schenkwirthe fungirten und das ihnen die Aussicht eröffnete, mit der Zeit noch einmal wohlhabende Leute zu werden.

„Endlich,“ so schloß Harry’s Epistel, „endlich kann ich nun auch anfangen, einige Zinsen von dem Capital abzuzahlen, das meine gute Tante und ihr Mann durch die Wohlthaten, die sie mir in meiner Kindheit erzeigten, bei mir angelegt. Bevor ich so weit war, wollte ich nicht schreiben. Besser, Ihr hieltet mich für todt, als elend. Wozu sollte es auch nützen, wenn ich die Sorgen einer armen Wittwe mit den meinigen vergrößerte? Zumal mir Niemand helfen konnte und sollte, als Gott und ich selber. Aus Europa hörte ich selten etwas; die größte und angenehmste Neuigkeit war die, daß aus Dir und meiner kleinen Cousine ein Paar geworden. Ich kann Dir nicht sagen, wie tröstlich mir diese Nachricht war, denn nun wußte ich, daß es meiner alten, trefflichen Tante an nichts fehlen würde. Doch, mein lieber William, Du darfst nicht vergessen, daß ich ihr ältester Sohn bin, und mußt es zulassen, daß ich von jetzt an das Meinige beitrage, ihren Lebensabend zu schmücken, wie sie es verdient. In dem anliegenden Schreiben sende ich ihr meine ersten Ersparnisse. Dich bitte ich, Dir die Havannah-Cigarren und den Liqueur aus unserer Fabrik gut schmecken zu lassen, und meiner kleinen lieben Hermine zu sagen, daß sie sich ihres Bruders in Liebe erinnern möge, wenn sie den beigeschlossenen Shawl um ihre weißen Schultern schlägt, die mir immer wie die Fittiche eines Engels vorkamen, wenn das liebreizende Kind meinen Hals umschlang. Sage ihr auch, daß sie es nicht übel nehmen soll, wenn ich für dies Mal nicht auch an sie schreibe; ich kann mir ja denken, daß sie diese Zeilen Wange an Wange mit Dir liest.“

„Hermine! Meine Hermine, ich habe Dich verloren!“ schrie William auf. „Du bist kein guter Mensch! – diese Worte werden ewig wie Flammen in meinem Herzen brennen! Und doch hat ein Engel sie gesprochen, ein gewöhnliches Weib würde mich ein Ungeheuer genannt haben, und mit Recht. Ich wahnsinniger Thor habe selbst das größte Glück der Erde von mir gestoßen! Ich bin so elend geworden, daß ich das Leben nicht mehr ertragen kann!“

Der unglückliche junge Mann würde in diesem Augenblicke das Mitleid selbst des strengsten Sittenrichters geweckt haben, so groß war sein Schmerz, seine Reue, seine Zerknirschung. Endlich raffte er sich mit einem verzweiflungsvollen Entschlusse empor. „Ich muß sie sehen!“ rief er, „zu ihren Füßen will ich sie in die ganze Höllentiefe meiner Schuld blicken lassen und ihr Urtheil, ihre Entschließung in Demuth empfangen und tragen.“

Ohne Hut stürzte er aus dem Hause, den Abhang hinunter, dem Häuschen am Strande zu. Durch die hellen Scheiben suchten seine Blicke das mißhandelte, schuldlose Weib, und neuer Schrecken ergriff ihn, als er Hermine kniend vor ihrer Mutter, das Haupt in deren Schooße verbergend, erblickte. Natürlich wußte die Mutter nun seine ganze Schande; wie konnte er ihr, die ihn wie den Wolf betrachten mußte, der ihr das Lamm geraubt und das Herz desselben zerfleischt hatte, unter die Augen treten? Aber die Mutter sah nicht auf, wie von Schmerz und Zorn bewegt, sie blickte glücklich und wie verklärt auf die Tochter herab, und hatte die Hände segnend auf das Haupt derselben gelegt.

Mit der Miene des Verbrechers, der seine Schuld empfindet und eingestehen will, trat William leise ein und warf sich an Herminens Seite nieder, indem er die flehenden Augen zur Mutter erhob, die ihn freundlich verwundert anschaute, als er ausrief: „O Mutter! Mutter! vergeben Sie mir!“

„Was soll ich Ihnen vergeben, lieber Sohn?“ war ihre fast ängstlich klingende Frage, während Hermine regungs- und athemlos in ihrer Stellung verharrte und keine Ahnung hatte, welche Wirkung Harry’s Brief in der Seele ihres verirrten Gatten hervorgebracht.

„Hat nicht Hermine – o daß ich noch sagen könnte: meine Hermine! – mich bei Ihnen verklagt? Sie zürnen mir, und das mit dem heiligsten Rechte. Versuchen Sie nicht, Ihre Gefühle gegen mich zu verbergen; ich bin nicht gekommen, mich zu entschuldigen, sondern mein Unrecht zu bekennen und mein Urtheil zu empfangen.“

„Hermine, mein Kind, blick’ doch auf und sprich!“ sprach die Pastorin, zärtlich bemüht, das hold erröthete Antlitz der Knieenden aufzurichten, und als das jungfräuliche Weib nun wie Maria,

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