Seite:Die Gartenlaube (1860) 541.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


.Wenn sich erst der Bonelli’sche Webstuhl ordentlich eingebürgert hat, werden die schönsten und bis jetzt kostbarsten Muster in Teppichen und Kleiderstoffen, Tüchern und textilen Zierrathen aller Art auch den Unbemittelten zugänglich, und so gewinnt das Schöne und Anmuthige in unserer Umhüllung und Umgebung eine unendlich weitere, bürgerliche Ausdehnung, der wir uns mit der Zeit Alle freuen können.


Die Geschwister.
Erzählung von Dr. J. D. H. Temme.
(Schluß.))

Der Präsident ließ die Anklageakte verlesen. Die Angeklagte, Henriette Grone, war beschuldigt, ihrer Schwester, der Wittwe Rother, von der sie aus Mitleiden in’s Haus genommen sei, gleich am Abend ihrer Ankunft aus einem unverschlossenen Secretair die Summe von dreihundert Thaler heimlich entwendet zu haben. Ein Gemurmel der Entrüstung ging durch den Saal. Aber wem galt es? Die Blicke richteten sich dabei nicht auf das arme Mädchen in der Anklagebank, sondern auf die reiche Dame der Zeugenreihe. Das Mädchen hatte das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Die Wittwe sah mit einem stolzen, harten Blicke vor sich hin. Das Mädchen mußte das Gesicht erheben.

„Angeklagte, bekennen Sie sich schuldig?“ fragte, wie es Vorschrift war, der Präsident sie.

Sie blickte aus ihren Vertheidiger.

Dieser nahm für sie das Wort. „Die Angeklagte war des Willens, sich schuldig zu bekennen. Ich habe ihr den Rath ertheilt, mir die Antwort zu überlassen. Meine Herren Geschworenen, Sie werden durch den Verlauf der Sache sich überzeugen, daß die Angeklagte zur Zeit der That in einem Zustande der Sinnenverwirrung war, der die Zurechnungsfähigkeit, also auch jede Schuld absolut bei ihr ausschloß. Sie kann sich daher nicht für schuldig bekennen, und meine Pflicht als Vertheidiger war es, einem Unrecht zuvorzukommen, das sonst dieser hohe Gerichtshof, wenn auch ohne Wissen und Willen, hätte begehen müssen. Ich bitte danach den Herrn Präsidenten, die Angeklagte von einer Beantwortung der gestellten Frage zu entbinden.“

Der Gerichtshof ging auf den Antrag ein. Die Zeugen wurden zur Beeidigung vorgerufen.

„Sind auch Sie bereit, den Zeugeneid zu leisten?“ fragte der Präsident die Wittwe Rother. „Nach dem Gesetze können Sie als Schwester der Angeklagten nicht dazu gezwungen werden.“

„Ich bin bereit,“ sagte sie mit fester Stimme.

Sie wurde mit den Anderen vereidigt. Die Zeugen mußten abtreten. Der Präsident begann das Verhör der Angeklagten.

„Was haben Sie auf die Anklage zu erwidern?“

Sie hatte nichts zu erwidern. Sie konnte nur einräumen. Und das that sie, offen, sie konnte frei den Richter ansehen. Es mußte doch ein höheres Bewußtsein sie beseelen, daß sie in solcher Weise ein schweres, ein gemeines, entehrendes Verbrechen auf sich nehmen konnte. Auch das Publicum schien Aehnliches zu fühlen.

„Ich habe die That verübt,“ antwortete sie auf die Frage des Präsidenten. „Ich war allein in der Stube meiner Schwester. In der Stube stand ein Secretair, in dem sie ihr Geld verwahrte. Der Schlüssel steckte im Schlosse. Ich schloß ihn auf und nahm die Summe von dreihundert Thalern heimlich zu mir.“

Kein Laut in dem weiten, dicht besetzten Zuschauerraume. Aber überall Blicke der innigsten Theilnahme, des Mitleides. Frauen weinten. Jeder fühlte klar und deutlich, nur ein großes, schweres Unglück könne die Arme bewogen haben, das Verbrechen zu begehen.

„Was haben Sie mit dem Gelde gemacht?“ fragte der Präsident.

„Ich habe es weggegeben.“

„An wen und zu welchen Zwecken?“

Sie antwortete nicht. Der Präsident wiederholte die Frage. „Ich kann Sie zu keiner Antwort zwingen,“ setzte er hinzu. „Aber sie dürfte in Ihrem eigenen Interesse liegen.“

„So werde ich schweigen,“ sagte das Mädchen fest.

Der Vertheidiger nahm wieder das Wort. „Ich darf in den Gang dieses Verhörs nicht eingreifen,“ sagte er. „Bei der Vernehmung der Zeugen werde ich dem Herrn Präsidenten die Antwort auf die Frage liefern.“

Der Präsident stellte noch einige unwesentliche Nebenfragen. Dann schritt er zur Vernehmung der Zeugen. Die Wittwe Rother mußte zuerst erscheinen, die Bestohlene, aber auch die Schwester der Angeklagten. Ihr strenger Blick nahm einen feindlichen Ausdruck an, als sie sich auf den Zeugenstuhl setzte.

„Erzählen Sie, was Ihnen von dem Diebstahle bekannt ist,“ forderte der Präsident sie auf.

Sie antwortete mit lauter, sicherer Stimme. „Ich verwahre in dem Secretair meiner gewöhnlichen Wohnstube mein Geld. Der Secretair ist unverschlossen, wenn ich in dem Zimmer bin. Er war auch unverschlossen, als am Abende des Diebstahls meine Schwester allein da war. Ich hielt sie für ehrlich. Sie war an demselben Tage erst bei mir eingetroffen. Ich hatte sie zu mir kommen lassen und wollte sie zu mir nehmen aus Mitleid. Sie war arm, sie sollte es gut bei mir haben. Als ich spät am Abend in mein Zimmer zurückkehrte und zufällig in dem Secretair nachsah, entdeckte ich, daß mir die Summe von dreihundert Thalern fehlte. Ich war darum bestohlen. Meine Schwester gestand den Diebstahl ein.“

„Hatten Sie mehr Geld in dem Secretair liegen?“ fragte der Präsident.

„Ja.“

„Wieviel?“

„Ungefähr fünftausend Thaler.“

„Sie sind reich?“

„Ich bin nicht arm.“

„Man schätzt Ihr Vermögen auf mindestens eine halbe Million Thaler.“

„Ich glaube nicht, daß mein Zeugeneid mich zu seiner Abschätzung hier verpflichtet.“

„Nein,“ sagte der Präsident. Dann fuhr er fort: „Sie haben der Polizei die Anzeige von dem Diebstahle gemacht?“

„Ja,“ mußte sie sagen.

Durch den ganzen weiten Saal lief wieder ein Gemurmel der Entrüstung, und die Blicke brauchten nicht erst zu zeigen, wem es galt. „Der Undank, die Frechheit hatten mich empört,“ wollte die Zeugin es beschwichtigen. „Es war eine Gewissenssache für mich.“

Da erhob sich der Vertheidiger. „Herr Präsident, ich versprach vorhin, Ihnen bei Vernehmung der Zeugen eine Antwort auf Ihre Frage zu liefern, was die Angeklagte mit dem Gelde gemacht habe. Darf ich jetzt bitten, an die Zeugin einige Fragen richten zu wollen?“

„Nennen Sie die Fragen,“ gestattete der Präsident.

„Sie betreffen einen Bruder der Zeugin und der Angeklagten. Er wollte sich selbst als Entlastungszeuge hier gestellen. Ich mußte ihn zurückweisen; die Angeklagte beschwor ihn, nicht zu erscheinen. Er würde sich noch hinterher unglücklich gemacht haben. Ich erreiche meinen Zweck durch wenige Fragen an die Zeugin. Der Gegenstand meiner ersten Frage an sie ist: Jener Bruder ist arm. Er war in großer Noth. Er war in der dringendsten Gefahr, entehrt, völlig brodlos zu werden, mit Frau und Kindern; er hat eine kranke Frau und drei kleine Kinder. In dieser Lage wandte er sich an seine Schwester, an die gegenwärtige Zeugin, die reiche Dame, deren Vermögen auf mindestens eine halbe Million geschätzt wird. Er stellte ihr seine trostlose Lage vor, er bat sie um dreihundert Thaler; so viel bedurfte er, um sich zu retten. Sie verweigerte ihm das Geld. Er beschwor sie, er fiel vor ihr auf die Kniee, für sein Weib, für seine Kinder. Sie verweigerte ihm das Geld. Sie hatte fünftausend Thaler in dem Secretair liegen, der neben ihr stand, für ihre Vergnügungen, für ihren Putz. Sie erklärte ihm, daß er keinen Groschen von ihr bekommen werde. So ließ sie ihn gehen, in Verzweiflung, in den

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_541.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)