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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

über alle entgegenstehenden Ansichten. In der That ein Platz und eine Gelegenheit, würdig sie aufzusuchen und neben den vielen Wundern, die Natur, Kunst und Vergangenheit uns hier bieten, dieses eine nicht zu vergessen, es zu schauen und sich in den Staub niederzuwerfen und sein Haupt in Demuth zu beugen vor dem Krummstab und seiner Unfehlbarkeit, oder aber – es zu belächeln und es einzureihen in die Kategorie jener Gebräuche, wie sie zum Gedeihen der geistlichen und weltlichen Herrscher zu allen Zeiten und unter allen Zonen gepflegt und geübt wurden.

In der Nähe der reizenden Stadt Neapel, an dem blauen Wasser der classischen Bucht von Bajä, liegt die malerische Stadt Puzzuoli. Hier war Sanct Januarius – der San Gennaro der Neapolitaner – in der Mitte des dritten Jahrhunderts geboren, hier wirkte er als Bischof der neuentstandenen christlichen Gemeinde, und hier war es, wo er unter Dracontius, dem römischen Proconsul für Campanien, im Jahre 305 den Martertod in der noch heute vortrefflich erhaltenen Arena erdulden sollte. Allein zahm wie die Lämmer, so erzählt uns die Legende, legten sich die Bestien, denen er zum Fraße bestimmt war, zu seinen Füßen nieder und küßten die gesalbten, heiligen Hände. Aber seine Richter waren wilder als die wilden Thiere. Ihnen genügten nicht die Zeichen des Himmels, womit er seinen Priester verherrlichte, und in der Verstocktheit ihres Herzens gaben sie den Befehl, mit dem Schwerte zu tödten, was der Blutgier der Bestien siegreich widerstanden hatte.

Das Blut des heiligen Januarius.
Nach der Natur gezeichnet von C. Grob.
(Hälfte der natürlichen Größe.)

Januarius wurde zu Puzzuoli beerdigt. Bei seiner Hinrichtung hatte sich eine fromme Anhängerin seines Glaubens von dem auf die Erde niederrinnenden kostbaren Blute zu verschaffen gewußt. Sie füllte es in zwei kleine Phiolen, und als wenige Jahre darauf, nach dem Siege des Christenthums durch Constantin, der Leichnam des Märtyrers durch den damaligen Bischof von Neapel im Triumphe nach der Hauptstadt gebracht und dort beigesetzt wurde, präsentirte sich auch jene fromme Christin vor dem Bischof St. Severus und überreichte ihm die kostbare Reliquie, die sie bisher als theures Kleinod verborgen gehalten hatte. Aber siehe da! in der Hand des Bischofs wurde das bisher starre, geronnene Blut wieder flüssig. Es schäumte und gährte, als ob es eben erst dem heiligen Körper entquollen sei, und ein zweites Wunder war geschehen zu Ehren der Kirche und ihres muthigen Bekenners.

Von dieser Zeit an war der Leichnam des heiligen Januarius noch verschiedenen Wechselfällen unterworfen. Einige Fürsten hatten ihn, wie das sehr häufig zu geschehen pflegte, verschiedener Zwecke halber dahin und dorthin bringen lassen, bis er denn schließlich im Jahre 1497 für immer nach Neapel gebracht und dort unter dem Hochaltar des zu seiner Ehre erbauten Domes zum letzten Male beigesetzt wurde. Die beiden Fläschchen mit dem Blute waren dem Körper gefolgt. Es scheint, als ob sich im Verlauf vieler Jahrhunderte das Wunder nicht wiederholt, da Niemand seiner erwähnt bis zum elften Jahrhundert. Auch von dort an bis 300 Jahre später sind die Nachrichten darüber sehr unbestimmt. Erst mit der Zurückbringung der Reliquien nach Neapel beginnt die regelmäßige Ausstellung des Blutes und die daran sich knüpfende Flüssigwerdung und hat ununterbrochen bis auf unsere Tage fortgedauert.

Zweimal nur des Jahres ist es den Gläubigen vergönnt, das Mirakel zu sehen, einmal am ersten Sonnabend im Mai und dann am 19. September. Es wiederholt sich von da an jedesmal während acht Tagen. Besonders feierlich ist der erste Tag. Unter dem Geläute der Glocken, den Tönen der Musik und dem Jubeln der frohen Menge bewegt sich eine stattliche Procession von dem Dome aus mit dem Blute des Heiligen nach der Kirche der heiligen Clara. Das heilige Gefäß ruht auf einer kostbaren von vier Priestern getragenen Bahre, welcher unmittelbar der hohe Clerus folgt, der Erzbischof an der Spitze. Voraus schreiten, brennende Kerzen in der Hand, sämmtliche Ordensgeistliche Neapels und der Umgegend, Tausende an der Zahl, und zwischen ihnen, getragen von rüstigen Männern, 45 massiv-silberne Brustbilder der verschiedenen Kirchenpatrone der an Kirchen und Klöstern so reichen Stadt. In Santa Chiara angelangt, wartet ihrer Alles zum würdigen Empfange. Die weiten Hallen sind bunt mit Blumen, Teppichen und Lichtern geschmückt. Auf einer Estrade zur Seite des Hochaltars steht ein starkes Musik- und Sängerchor, der Altar selbst blitzt und funkelt in Hunderten von Kerzen, die ihre Strahlen in Gold und Silber wiederspielen, und vor seinen Stufen steht die Pfarrgeistlichkeit mit Wasser und Weihrauch und bringt jedem der herangetragenen Heiligen unter einem kurzen Gebete ihre Verehrung dar. Diese wenden sich nun nach einem Seitenschiffe und machen so einer dem andern Raum, bis am Ende die Madonna und gleich nach ihr das Blut des Märtyrers folgt. Alles das trüge eine gewisse Würde in sich, wenn unser Auge und Ohr nicht beleidigt würde durch den Anblick, der sich uns auf der linken Seite des Hochaltars darbietet. Dort nämlich sehen wir auf einer niedrigen Estrade eine Zahl von ungefähr 30 Weibern versammelt. Es sind alle ohne Ausnahme Weiber aus dem Volke, in den Jahren stehend, wo die bei der weiblichen Jugend Neapels ohnehin so seltene Schönheit und Grazie sich in ihr directes Gegentheil verwandelt hat, und durch die man lebhaft wieder an jene eklen Kampfscenen erinnert wird, die man unter ihres Gleichen tagtäglich an der Santa Lucia oder der Mirgillina erleben kann. Auch hierhin an den Altar haben sie die wohl nur dem eingeborenen Neapolitaner erträglichen Manieren, ihren Gefühlen Luft zu machen, mitgebracht, und so erhebt sich denn jedesmal, so oft eins der Heiligenbilder herannaht, ein Zetergeschrei von jener Estrade aus, das die Fenster klirren und die Ohren erbeben macht. Anfangs mag es unmöglich sein, den Sinn und Inhalt der im kreischendsten Discant ausgestoßenen Töne aufzufassen oder auch nur zu vermuthen. Nach und nach gewöhnt das Gehörorgan sich daran und entziffert aus dem widrigen Chaos die bekannten Schlußworte der katholischen Psalmen: Sancte N. N., ora pro nobis. Gloria patri et filio etc. etc. Bei jedem Heiligen scheint das Geschrei sich zu vermehren, die religiöse Gluth stärker und das Bedürfniß nach der Reliquie sehnsüchtiger zu werden, denn sie haben ein Recht darauf, diese Frauen: es sind die Nachkommen der Familie des heiligen Januarius.

Es erscheint das Bildniß der Madonna, ihre Wuth verdoppelt sich; es kommt die Bahre mit dem silbernen Schrein, und sie übersteigt alle Grenzen. Bald jedoch tritt eine wohlthätige Pause ein, während deren der Erzbischof mit der Geistlichkeit am Fuße des Altars mehrere Gebete absingt. Mittlerweile ist das in der Kirche massenhaft versammelte und durch die Soldaten zurückgehaltene Volk mit Energie bis in das Chor vorgedrungen. Die Honoratioren der Stadt und die Fremden, welche letztere besonders man mit großer Liberaliiät bis zur Communionbank hat passiren lassen, werden durch die sich anwälzende Menge bis über die Ballustrade dicht zum Altar hingedrängt und stehen Fuß an Fuß hinter den ministrirenden Geistlichen und dem betenden Erzbischofe. Dieser endlich ergreift das heilige Gefäß, steigt die Stufen hinauf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_524.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)