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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

sich der Caserne zu bemächtigen, unterrichtet worden waren, den Platz einzuschließen. Ich sah ein, daß jetzt keine Zeit mehr zu verlieren war. Deshalb flüchtete ich zu einer Obsthökerin und gestand ihr meine Lage. Die treffliche Frau besann sich nicht lange; sie verbarg mich in ihrem Hinterladen, verschaffte mir eine Verkleidung als Bauer, und um acht Uhr Abends entwich ich durch das Laternenthor aus Genua und begann auf diese Weise das Leben der Verbannung, des Kampfes und der Verfolgung, das ich aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht ganz hinter mir habe. Dies geschah am 5. Februar 1834.

„Ohne eine gewisse Straße zu verfolgen, wandte ich mich in’s Gebirge. Ich sah mich genöthigt, Gärten zu durchschreiten und Mauern zu überspringen. Zum Glück war ich mit derartigen Uebungen vertraut, und nach einer Stunde gymnastischer Exercitien war ich jenseit des letzten Gartens und hinter der letzten Mauer. Ueber die Berge von Sestri langte ich nach Verlauf von zehn Tagen, oder vielmehr von zehn Nächten, in Nizza an, wo ich das Haus meiner Tante keck aufsuchte, um durch sie meine Mutter vorzubereiten, die sonst zu heftig erschrocken sein würde.

„Nach einer eintägigen Ruhe machte ich mich Nachts, von zwei Freunden begleitet, Joseph Jaun und Ange Gustavimi, wieder auf den Weg. Am Var angekommen, fanden wir denselben von Regengüssen angeschwollen, was jedoch für einen Schwimmer, wie ich, kein Hinderniß war. Ich passirte ihn halb zu Fuße, halb schwimmend, während meine Freunde am andern Ufer zurückblieben. Ich war gerettet, aber noch nicht ganz, wie man gleich sehen wird.

„In diesem Vertrauen ging ich kecken Schritts auf ein Corps Zollwächter zu, denen ich sagte, wer ich wäre und warum ich Genua verlassen hätte. Die Zollwächter erklärten mir, daß ich bis auf weiteren Befehl, den sie in Paris einholen wollten, ihr Gefangener sei. Da ich jedoch dachte, daß sich mir bald eine Gelegenheit zur Flucht darbieten würde, leistete ich keinen Widerstand und ließ mich nach Grasse und von Grasse nach Draguignan abführen.

„Zu Draguignan brachte man mich auf ein Zimmer !m ersten Stock, dessen offenes Fenster in einen Garten ging. Ich näherte mich dem Fenster, als ob ich die Landschaft betrachten wollte. Es waren kaum zehn Fuß bis auf den Boden. – Ich schwang mich hinab, und während die Zollwächter, weniger behend oder weniger auf ihre Füße vertrauend, als ich, den großen Weg zur Treppe herab einschlugen, gewann ich einen Vorsprung und warf mich wieder in’s Gebirge. Ich kannte den Weg nicht, aber ich war Matrose. Wenn mich die Erde verließ, blieb mir der Himmel, dieses große Buch, in welchem ich meinen Weg zu lesen gewöhnt war. Mit Hülfe der Sterne orientirte ich mich und gelangte glücklich nach Marseille.

„Ich trat in ein Gasthaus ein. Ein junger Mann und eine junge Frau wärmten sich nahe an einem Tische, der nur auf das Abendessen zu warten schien. Ich verlangte etwas zu speisen, da ich seit gestern Abend nichts genossen hatte. Der Wirth bot mir an, mich mit an den Tisch zu setzen und mit ihm und seiner Frau zu Nacht zu essen. Dies nahm ich an. Das Essen war gut, der Landwein angenehm, das Feuer erwärmend. Ich empfand einen jener Augenblicke des Wohlseins, wie man sie nach einer überstandenen Gefahr oder wenn man glaubt, nichts mehr befürchten zu müssen, empfindet. Mein Wirth wünschte mir Glück zu meinem guten Appetit und zu meinem munteren Aussehen. Ich erwiderte ihm jedoch, daß dies nichts Verwundernswerthes sei, denn ich hätte seit achtzehn Stunden nichts zu mir genommen. Was aber mein munteres Aussehen anlange, so sei dies noch einfacher, – in meinem Vaterlande wäre ich wahrscheinlich dem Tode entwichen, – in Frankreich dem Gefängniß. Da ich mich so weit herausgelassen, konnte ich aus dem Uebrigen kein Geheimniß machen. – Mein Wirth schien so frei, seine Frau so gut, daß ich ihnen Alles erzählte. Jetzt sah ich aber zu meinem großen Erstaunen das Angesicht meines Wirths sich verfinstern. – „Nun,“ fragte ich ihn, „was haben Sie?“

„Nach dem Geständniß, das Sie mir gemacht haben, halte ich mich mit bestem Gewissen für verpflichtet, Sie in Haft zu nehmen.“

„Ich fing an zu lachen, um mir nicht den Anschein zu geben, als nähme ich diese Eröffnung ernstlich. Ueberdies Einer gegen Einen, gab es auch nichts, was ich hätte fürchten sollen. „Gut!“ sagte ich zu ihm, „verhaften Sie mich; es wird immer noch Zeit sein, mich beim Nachtisch festzunehmen. Lassen Sie mich meine Abendmahlzeit beschließen – ich habe noch Hunger.“ Und ich fuhr fort zu essen, ohne irgend unruhig zu scheinen. Bald jedoch bemerkte ich, daß, wenn mein Wirth Hülfe nöthig hätte, um seinen Plan auszuführen, diese ihm nicht fehlen würde.

„Sein Gasthof war der Sammelplatz der Dorfjugend; allabendlich traf man sich hier, um zu trinken, zu rauchen, Neuigkeiten auszukramen und über Politik zu schwatzen. Die gewöhnliche Gesellschaft versammelte sich nach und nach, und bald waren einige zehn im Gasthause gegenwärtig. – Diese jungen Leute spielten Karte, tranken und sangen. Der Wirth sprach nicht mehr davon, mich festzunehmen, dennoch verlor er mich nicht aus den Augen. Es ist wahr, ich hatte nichts von Sachen bei mir, und mein Anzug konnte meiner Zeche nicht eben entsprechen. Aber ich besaß in meiner Tasche einige Thaler und ließ diese klimpern; ihr Klingen schien den Wirth einigermaßen zu beruhigen.

„Ich wählte den Augenblick, wo einer der Trinker mitten unter Bravo’s ein Lied, das sich des größten Erfolgs erfreute, beendigt hatte, und das Glas in der Hand rief ich: „Jetzt hab’ ich das Wort!“ Und nun stimmte ich das Lied Beranger’s: „le Dieu des bonnes gens“ an. Wenn ich keine andere Bestimmung gehabt hätte, so hätte ich sollen Sänger werden; ich habe eine Tenorstimme, die, wäre sie ausgebildet worden, einen gewissen Umfang erreicht haben würde. Die Verse Beranger’s, die Sicherheit und Frische, mit welcher sie vorgetragen wurden, der wiederkehrende Refrain und die Volksthümlichkeit des Dichters erhoben alle Zuhörer. Ich mußte zwei oder drei Couplets wiederholen, man umarmte mich zuletzt und rief: „Es lebe Beranger! es lebe Frankreich! es lebe Italien!“

„Nach einem solchen Erfolge konnte von keiner Verhaftnahme mehr die Rede sein; mein Wirth sprach kein Wörtchen mehr davon, so daß ich heute noch nicht weiß, ob er es ernstlich gemeint oder sich nur einen Scherz gemacht hat. Man verbrachte die Nacht mit Singen, Spielen, Trinken; dann, am nächsten Morgen mit Tagesanbruch, bot sich die ganze fröhliche Gesellschaft zu meiner Begleitung an, eine Ehre, die ich natürlich annahm; wir trennten uns erst nach einem Wege von sechs Miglien. – Wahrlich, Beranger ist todt und weiß nicht, welchen Liebesdienst er mir geleistet!“

Glücklich entkam Garibaldi nach Marseille, ohne daß eine andere Ueberraschung ihn betroffen, als daß er in einer Zeitung, „das souveraine Volk“ betitelt, seinen Namen, wie er selbst scherzt, zum ersten Male gedruckt las; er war von den Blutrichtern Karl Alberts zum Tode verurtheilt worden, und dies raubte ihm die Aussicht auf einen längeren Aufenthalt in Frankreich, denn dem „bürgerfreundlichen“ König Louis Philipp war eine Verletzung des Asylrechts wohl zuzutrauen. Deshalb schiffte er sich alsbald nach Tunis ein, von wo aus er jedoch nach kurzer Zeit, da ihm die vom Bey von Tunis übertragene Stellung als Reis einer Barbareskenschebecke nicht sonderlich zusagte, unter dem angenommenen Namen Pane wieder nach Marseille zurückkehrte, das, von der Cholera furchtbar verheert, einem weiten Kirchhof glich und vergebens nach Leuten suchte, welche Dienste in den überfüllten Hospitälern verrichteten. Sofort übernahm Garibaldi einen solchen Barmherzigkeitsdienst und blieb daselbst vierzehn Tage unter allen Schrecknissen einer verheerenden Seuche, bis dieselbe an Heftigkeit abgenommen hatte. Bald darauf bot sich seinem nach Abenteuern verlangenden Geiste eine willkommene Gelegenheit zur Gewährung seines Sehnens dar: der Capitain der Brigg „le Nautonnier“ nahm ihn als zweiten Matrosen mit nach Rio Janeiro. Diese Reise gewährte ihm ein hohes, nicht geahntes Vergnügen, indem sie ihm neue Wunder der Schöpfung erschloß, die sein weiches, für zarte Eindrücke empfängliches Herz mit Staunen erfüllten. Viele seiner Freunde haben ihm deshalb nachgesagt, daß er vorzugsweise zum Dichter geboren sei. „Wenn man aber nur unter der Bedingung Dichter ist,“ sagt er selbst in seinen Aufzeichnungen, „daß man die Iliade, oder die göttliche Komödie, die Meditationen Lamartine’s, oder die Orientalen Victor Hugo’s dichten kann, so bin ich nicht Dichter; wenn der jedoch ein Dichter ist, der Stunden zubringt, um in den azurnen und tiefen Wogen die Geheimnisse der unterseeischen Vegetation zu erforschen; wenn der ein Dichter ist, welcher Angesichts der Bai von Rio Janeiro, Neapel oder Constantinopel in Wonnetrunkenheit geräth; wenn der ein Dichter ist, der sich zurückträumt in die Zärtlichkeit der theuern Mutter, in die Erinnerungen der Kindheit und der ersten Jünglingsliebe, während Flinten-

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