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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


Kasten auf. Dann wollte er den Kasten von seinen Schultern nehmen. Er konnte nicht recht damit fertig werden, er war zu steif und zu schwach, der alte Mann. Anderswo halfen ihm die Leute wohl dabei. Hier, unter allen den vornehmen, reichen, geputzten, stolzen Menschen, konnte er nicht einmal wagen, sich nach Hülfe umzusehen.

„Was mag der Mensch hier wollen?“ fragten sich hundert Augen, die ihn hatten ankommen sehen.

Als er das Gestell aufstellte, als er den Kasten von seinen Schultern nehmen wollte, wußten sie es.

„Mein Gott, das ist ein Leierkasten!“

„Nach jener köstlichen Musik ein Leierkasten, das ist empörend!“ riefen Herren und Damen, die Kunstkenner waren.

„Nach einem so entzückenden Straußischen Walzer!“ setzten entrüstet einige jüngere Damen hinzu.

„Die Idee ist unbezahlbar!“ lachten blasirte junge Herren, und sie lachten seit langer Zeit zum ersten Male wieder laut.

Sie hatten Recht. Indeß waren ihrer nur wenige, und die energische künstlerische Entrüstung blieb vorherrschend, freilich unter dem Hinzutreten einer tiefen moralischen.

„Wie schmutzig der Mensch aussieht,“ riefen die geputzten Damen und die Herren in Glacehandschuhen wieder.

„Es ist ein alter Soldat,“ riefen entrüstet ältere reiche Kaufleute. „Es ist eine Schande, daß man solchen Leuten ein Bettelprivilegium gibt.“

Am zornigsten waren die Officiere der Garnison der benachbarten Stadt.

„Er ist von der Landwehr! Diese Landwehr compromittirt immer die Armee. Sie ist die wahrhafte militairische Schattenseite. Wie lange man den Unfug noch dulden mag!“

Ja, die Landwehr ist vielen Leuten ein Unfug. Sie war es schon lange. Jetzt wollen sie ihn ausrotten. Der alte Invalide war ein alter Landwehrmann. Die abgeschabte, zerrissene Litewka zeigte es. Das Landwehrkreuz an der Mütze, die sein weißes Haupt bedeckte, zeigte es. Zeigten es nicht auch das eiserne Kreuz und die anderen Zeichen der Tapferkeit, die seine Brust schmückten? Und unter diesen Zeichen manche breite und tiefe Narbe von den Kugeln, Säbeln und Bajonneten der Franzosen?

Ihr, die Ihr jetzt der Landwehr das Todesurtheil sprecht, möchtet Ihr statt dessen Euch danach drängen, dem übermüthigen, frechen Franken, der Euch nächstens wieder in das Land hineinkommen will, Mann gegen Mann Brust und Stirn zu zeigen, und zur Ehre Eures deutschen Vaterlandes ihn mit Säbel, Bajonnet und Kugel niederzuwerfen oder, wenn ein gutes Geschick Euch das nicht gewähren will, Stirn und Brust zum breit und tief benarbten Walle gegen das Hereinstürmen jenes frechen Uebermuthes zu machen, wie der alte Landwehr-Invalide mit dem Leierkasten es gethan hatte!

Es wollte ihm nicht gelingen, den Leierkasten von den Schultern wegzubringen. „Der linke Arm ist mir zerschossen,“ sagte er zu einem Herrn neben ihm – „und mit dem rechten allein will es nicht recht mehr gehen; man wird alt.“

Der Herr neben ihm sah nach einer anderen Seite. In dem jungen Grafen Hochstadt zuckte etwas, und er schien aufspringen zu wollen. Die schöne Wittwe an seiner Seite warf ihm gerade einen zärtlichen Blick zu. Und über den Blick vergaß er den Invaliden; er hätte die Welt über ihn vergessen können. Aber Jemand anders erhob sich von dem Tische des Grafen.

Henriette Grone, die Schwester der schönen Wittwe, hatte nur Augen für den alten, schwachen Invaliden gehabt. Sie war unruhig geworden und kämpfte mit sich über etwas. Sie sah sich verlegen um nach allen den reichen, vornehmen, geputzten Leuten. Auf einmal hatte sie einen Entschluß gefaßt. Sie sah nur den alten, schwachen Invaliden, der mit seinem Leierkasten nicht fertig werden konnte, sprang von dem Sitze auf und war bei dem alten Manne, vielleicht wußte sie selbst nicht, wie sie zu ihm gekommen war. Ihr Gesicht war hochglühend. Aber sie hatte nicht anders gekonnt. Mit leichter Hand hob sie den Kasten von den Schultern des Greises und stellte ihn auf das Gestell, das vor ihm stand. Dann wollte sie zurückkehren, blaß im Gesicht geworden, zitternd vor Verlegenheit und Scham. Aber sie wurde aufgehalten.

Ein alter Herr war plötzlich unter blühenden Kugelakazien hinter einem Gebüsche von Flieder hervorgetreten. Es war eine hohe, stolze Gestalt. Er trug bürgerliche Kleidung, aber auf dem einfachen schwarzen Rocke schimmerte das weiße Johanniterkreuz, und an silberdurchwirkter Schleife hing das eiserne Kreuz erster Classe auf die Brust herunter. Auf wie viele andere Orden mußte man schließen, die der stolze Mann nicht tragen mochte, vielleicht weil so viele Andere sie trugen! Er ging auf den Invaliden und das Mädchen zu und stutzte nicht, als er sie sah; er hatte sie wohl Beide schon durch das Gebüsch gesehen.

„Ach, Alter,“ sagte er zu dem Invaliden, „ich wollte Dir helfen, ein alter Kamerad von der Landwehr. Da kam eine bessere Hand mir zuvor. Spiele Du jetzt, ich sammle unterdeß für Dich. „Zwei Stücke spiele. Hast Du des Arndt’s Husarenlied auf Deinem Kasten?“

„Zu Befehl, mein General.“

„Und „Noch ist Polen nicht verloren“?“

„Auch, zu Befehl.“

„So spiele auch das, alter Kamerad. Noch ist auch unsere Landwehr nicht verloren, obwohl sie genug davon reißen und theilen und sie ganz zerreißen möchten. Fange an.“

Dann wandte er sich an Henrietten. Er sah das schöne, bescheidene, einfache Kind mit freundlichem Wohlgefallen an. „Und Sie, mein liebes, braves Fräulein – wie kann ich Ihnen danken für das, was Sie an diesem alten Manne mir gethan haben? Ich kann es nur durch eine Bitte: Geben Sie mir Ihren Arm, und wir sammeln Beide für den armen Leierkastenmann.“

Er hatte ihre Hand schon gefaßt und drückte sie herzlich. Dann legte er ihren Arm in den seinigen. Sie konnte nicht widerstreben und weinte nur; sie mußte es, und wußte selbst nicht, warum.

„Mein Onkel!“ hatte an dem Tische zehn Schritt davon der Graf Ottomar von Hochstadt überrascht ausgerufen.

„Ihr Onkel?“ hatte erschrocken die schöne Wittwe an seiner Seite wiederholt.

Der alte Herr war der Onkel des Grafen Ottomar, der Graf Gotthard von Hochstadt, der reichste und adelstolzeste Edelmann des Landes. Er war in seinen jüngeren Jahren, nach der Sitte des reicheren Adels und zu seinem Vergnügen, einige Zeit Officier in der Garde gewesen und hatte nach der Schlacht bei Jena den Abschied genommen.

(Fortsetzung folgt.)




Messina.

Diese Jahrtausende alte Sichelstadt „Zankle“, so genannt wegen des sichelförmigen Hafens, eines der schönsten und größten in der Welt, das Messana der alten Römer, später nacheinander von muhamedanischen Saracenen, christlich-ritterräuberischen Normannen, unglücklichen Hohenstaufen Deutschlands, spanischen und zuletzt bourbonischen Tyrannen beherrscht, zieht jetzt als letzter Halt der neapolitanischen Bourbonen die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Nachdem Garibaldi Palermo und das übrige Sicilien wie auf einen Zauberschlag erlöst hatte, blieb es wochenlang die wichtigste Frage in dieser weltgeschichtlichen Angelegenheit: Wird er es auch erlösen können, und wie stehen die Bedingungen dazu? Dies drängt uns sofort zu der Frage: Wie liegt Messina strategisch, und welche Kraft hat es als Festung?

Messina ist als wichtigste Hafen- und Handelsstadt Siciliens und wegen ihrer Lage dem Festlande gegenüber, von welchem es blos durch die Straße von Messina getrennt ist, der neuen Regierung Garibaldi’s unentbehrlich. Sie ist Hauptstadt der 14 geographische Meilen langen und etwa halb so breiten Provinz gleiches Namens. Diese wird im Innern von der großen Felsenkette ziemlich ausgefüllt, die von Osten nach Westen ganz Sicilien durchschneidet und südwestlich von der Stadt, unweit Catania, den Aetna enthält. Zwischen den Kämmen und Kanten der Gebirgszüge, an

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