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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„So wäre also mein Alter gesichert,“ sagte sie; „ich weiß, wohin ich mein Haupt zur Ruhe legen kann.“

„Und das Geld?“ fragte er und wollte noch Mehreres hinzusetzen. Doch sie fiel ihm sofort in die Rede, indem sie sagte und eine flüchtige Röthe ihre Wangen überhauchte: „Ja! das Geld! Es ist nicht ganz beisammen; ich dachte, offen gesagt, nicht, daß Ihnen diese Erreichung meines Wunsches sobald gelingen würde, zumal ich weiß, wie Viele sich ganz vergeblich bemühen; aber sehen Sie, ich habe die Jahre her gespart, was möglich; ich denke, es wird so sehr viel an der erforderlichen Summe nicht fehlen.“ Mit diesen Worten ging sie zur Commode, zog den Kasten heraus und holte einen ziemlich schweren Beutel mit Geld hervor. „Sehen Sie, das ist mein Schatz; wollen Sie ihn an sich nehmen und das Fehlende mir vorschießen? Ich denke so lange zu leben, daß Sie nichts verlieren sollen,“ setzte sie lächelnd hinzu, während der Rath mit Erstaunen das Geld nahm, es ausschüttete und zu zählen begann. Und er zählte und zählte; und je mehr er zählte, desto größer wurde seine Verwunderung. Endlich hielt er inne und sein Gesicht auf die lächelnd ihn Betrachtende richtend, sagte er:

„Mein Gott! das sind ja bedeutend mehr als zweihundert Thaler! Und dies Alles haben Sie erspart, erspart von dem Verdienst Ihrer Hände Arbeit? Wie ist dies möglich? Wie haben Sie dies angefangen?“

„Einfach,“ sagte sie und lächelte dabei zum ersten Mal glückselig zufrieden. „Ich hab’ nur ordentlich Buch, d. h. im Kopf, geführt, denn zum Schreiben war nicht Zeit. Einnahme und Ausgabe habe ich streng berechnet. Was mich sättigte, wußte ich; was ich zur Kleidung bedurfte, war leicht zu berechnen – und da fand sich bald, wie viel ich von jedem Thaler, den ich einnahm, zurückzulegen hatte – wenn ich anders etwas vor mich bringen wollte. Anfangs, in jüngeren Jahren, wurde es mir freilich schwerer, hätte manchmal Dies oder Jenes gern gekauft, auch wohl dies oder jenes kleine unschuldige Vergnügen mir gestattet – aber hat man nur der ersten Versuchung widerstanden, die übrigen machen sich leichter.“

Der Geheimrath lächelte, und von leichter Freude gestachelt, sagte er scherzend: „Bei Gott! Sie sollten Finanzminister werden; ich glaube, Sie brächten den Staat auf einen grünen Zweig.“ Doch sogleich wieder ernst werdend überzählte er noch einmal das Geld und sagte, sich zum Abgehen anschickend: „Ich besorge Alles sogleich zur Casse und lege das Fehlende zu. In einer Stunde sende ich Ihnen die betreffenden Quittungen und Documente. Wie leicht hätte Ihnen dies Geld gestohlen werden können!“

„Bei mir hätte es Niemand gesucht,“ sagte sie freundlich und geleitete ihn zur Thür hinaus. Er ging. Sie blieb. Einsam blieb sie, wie vordem, Tag ein, Tag aus arbeitend, jede Stunde nützend, keine Minute unbeachtet lassend.

Der Geheimrath sah ihr Licht bis spät in die Nacht hinein leuchten, und wieder vor Tagesanbruch fand er sie schon emsig nähen am Fenster. Die Freundinnen kamen nach wie vor, und wenn sie nicht selber kam, schickten sie die Kinder; auch die Sängerin, der Alternden blühender Liebling, fehlte nicht. Sie kamen Alle, und Niemand schien es zu bemerken, daß die von Allen Tante Gerufene älter und älter wurde; daß sie seltener denn früher ausging, immer spärlicher kam, ihre Lieblinge zu besuchen. – Sie hatte nicht Zeit, Besuche zu machen; die Arbeit schaffte nicht mehr wie ehedem; sie mußte schon oftmals die Nadel ruhen lassen oder das Auge für Augenblicke schonen. Was konnte es schaden? Niemand wußte es ja, daß sie des Nachts ein Stündchen zu den übrigen Arbeitsstunden zusetzte; sie mußte sich sputen, damit auch den letzten Rest des Vorschusses dem Rathe abzuzahlen ihr möglich werde – und das Alter bedarf ja auch des Schlafes weniger, als die Jugend; der Tod ist nahe – und dann hat man Zeit genug, im Grabe zu schlafen.

Es war im Winter wieder; eine Kleinigkeit war nur noch zu tilgen – dann – dann war die ganze Summe gedeckt. Alles Uebrige hatte sie bereits in den Jahren nach und nach abbezahlt; nur die letzten wenigen Thaler fehlten noch. Endlich war die Arbeit, an welcher sie so emsig genäht, beendet. Wohl ist es bereits Abend geworden. Es schneit und stürmt auf den Straßen. Was thut’s? Sie ist ja oft in solchem Wetter ausgegangen. Wird die Arbeit berichtigt, kann sie ihre Reslschuld noch heute dem Geheimrath abzahlen. Der Gedanke macht sie jubeln. Sie steht ohne Schulden, ohne Sorgen da – dann kann der Tod kommen, ihre Bücher sind in Ordnung. Soll und Haben stimmt genau. Sie geht. Sie achtet des Wetters nicht; sie achtet es nicht, daß sie sich den Tag über schon unwohl gefühlt. Hut und Mantel wird schützen. Die Arbeit im Arm schreitet sie muthig dahin. Es ist ein garstig Wetter. Sie liefert die Arbeit ab, sie empfängt das Geld; sie trägt es mit hochklopfender, keuchender Brust dem Geheimrath hin und schleicht sich müde fröstelnd nach Hause. Andern Tages war sie krank.

Der Geheimrath sah ihr Stübchen Abends dunkel bleiben; er fand sie früh des Morgens nicht am Fenster sitzen. Das beunruhigte ihn mehr, als er es sich selbst gestehen mochte. Er konnte nicht zögern, er mußte zu ihr gehen, zumal er Freudiges ihr zu verkündigen gedachte. Er kam und fand sie krank, recht krank auf dem Lager. Mild verweisend sagte er ernst: „Und Sie schickten nicht einmal zu mir? Wenn ich nun nicht gekommen wäre? Sie müssen machen und gesund werden – der Tod hat im Magdalenenstift Rast gehalten. Ihr Stübchen ist binnen kurzem leer.“

Die Kranke lächelte schmerzlich. „Ich werde dies Asyl nicht mehr bedürfen,“ sagte sie matt. „Gott hat mein Gebet erhört; ich scheide von hier – zur ewigen Ruhe.“

Und als der Geheimrath dies nicht Wort haben wollte, als er von baldiger Genesung, von besseren Tagen sprach, schüttelte sie das Haupt und sagte: „Wollen Sie mir die Ruhe nicht gönnen? Mein Tagewerk ist gethan; ich mache drüben im Stift einer Anderen Platz, die der Ruhe dort vielleicht mehr benöthigt ist, als ich es wäre, und die sich der Wohlthat mehr erfreuen wird, als ich es wohl jemals gethan hätte. Leben Sie wohl – und nehmen Sie vor meinem Scheiden meinen herzinnigen Dank.“

Der Geheimrath vermochte nichts mehr zu sagen; er ging – und sendete den Arzt. Es war zu spät! Alle Pflege, alle Liebe, alle Sorgfalt, die der Kranken von allen Seiten zu Theil wurde, vermochten nicht, den Tod zu bannen. Sie blieb wochenlang krank. Die Lerchen sangen, die Schwalben kamen wieder, ohne Genesung zu bringen. Anfangs April war sie gestorben. Als der Arzt kam und dem Geheimrath den Tod verkündete, sagte dieser: „Sie war beim Himmel ein ehrenwerther Charakter; der Hinblick auf dies weibliche Wesen hat mir oftmals Muth gegeben – wo ich schon verzagen wollte.“ Und mit der Hand auf den Actentisch zeigend, sagte er, nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit und Geringschätzung: „Sehen Sie dort diesen Stoß Papiere – es sind alles Bittgesuche! O, wie beschämt die Todte alle Diese! Sie hat nie ein Bittgesuch um Unterstützung eingereicht, sie hat gearbeitet, so lange sie zu arbeiten vermochte; sie hat gedarbt und sich gekümmert – aber sich nie auf Anderer Hülfe verlassen, oder den Staat mit Bittgesuchen belästiget. Und jene Bittenden dort – es sind Männer, Männer, die von Noth und Sorge sprechen, während die Frauen sich in Sammet und Seide kleiden. Sie bücken sich bis zur Erde, wenn sie eine Remuneration errungen haben – und feinden sich doch auch wieder gegenseitig bis auf den Tod an, wenn Der oder Jener wenige Thaler mehr erhalten hat, als die Andern nach ihren neidischen Ansichten meinen, daß ihm zukomme. O, wie viel ehrenwerther steht jenes Mädchen da! Und wir Männer wagen die Frauen das schwächere Geschlecht zu nennen! Der Todten gebührte, wie selten einer Andern, die Krone, das Glück des Lebens; ihr gebührt, wie Niemandem sonst, der reichste Blumenschmuck auf dem Sargesdeckel.“

Und was er sprach, was er dachte, er suchte es zur That, zur Wahrheit zu machen. Er ging zu seinen Freunden, die alle durch ihn längst von der Gestorbenen wußten, die ihren Werth bereits erkannt hatten, da sie noch lebte. Sie kamen alle. Alle kamen sie aus innerster Ueberzeugung, mit einem Herzen voll Hochachtung, voll Liebe und Trauer. Sie kamen, wie der reiche Fabrikant kam, für den die Verstorbene im Leben so thätig gearbeitet hatte, und der es fühlte, daß er seine treueste, zuverlässigste, beste Nähterin verloren habe; wie die Freundinnen kamen, wie deren Kinder gekommen waren, mit Blumen in den Händen, mit Thränen in den Augen. Sie stehen Alle am Sarge. Und während der Geistliche sprach, während er der Verdienste der Geschiedenen gedachte, ging den Einzelnen der Trauernden das Leben der Todten im Schmucke der Erinnerung, im Geiste des Friedens, der Milde und der Liebe vorüber.




Die Rede ist beendet, der Sarg wird aufgehoben, der Leichenwagen nimmt ihn auf. Noch eine kurze Zeit, und man senkt ihn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_486.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)