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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

leuchtet. Sie war ein wahrhaft schönes Mädchen, sie gehörte zu jenen Wesen, von denen die Sage geht, daß ein Engel bei ihrer Geburt die Augen ihr geküßt habe und dadurch die anfangs schwarzen in dunkelblaue umgewandelt, während das Haar seine glänzende Rabenschwärze behielt. Ihr Anblick hatte etwas bezaubernd Anziehendes, und dieser Anblick wurde schöner und schöner, je mehr sie sich zur Jungfrau entwickelte, je mehr ihr inneres und äußeres Leben sich entfaltete.

Unter solchen Umständen konnte es nicht fehlen, daß die jungen Männer, die vorübergingen, die am Fenster Sitzende bewunderten, und daß manch’ Einer von ihnen sich zu der aufbrechenden Mädchenrose hingezogen fühlte. Und als die Liebe nun durch ihre Seele zog, als sie meinte, Den gefunden zu haben, dem ihr Herz jubelnd entgegenflog, da war ihr Leben ein einziger Wonnegesang. Sie jubelte dies Glück nicht aus in Wort und Blick, aber ihr ganzer Körper schien durchgeistigt vom Hauch der Liebe, ihr Körper schien Engelsflügel bekommen zu haben – und in ihrer Brust schienen unzählige Lerchen einen Wettgesang anzustimmen.

Und als dennoch, wenige Monden darauf, diese Liebe zu Grabe getragen werden mußte, als er, der Treue geschworen, diese Treue brach, ihr Ringlein ihr wiedergab – hat sie nicht laut geschrieen, geklagt und die Hände gerungen; sie hat nur wochenlang still gelegen, wie in Todesschlaf versenket. Und als sie endlich zu neuem Leben erwachte, wußte man es, daß der Engel, der die Augen ihr geküßt – der Engel der Schmerzen gewesen war.

Bald darauf trat ein neues Unglück ein. Der Vater starb. Und wie es bei solchen Beamtenfamilien meist der Fall zu sein pflegt, daß, wenn der Gatte die Augen schließt, auch die Sorge und Noth, die bisher das kaum nothdürftig ausreichende Gehalt von Monat zu Monat fern gehalten hat, klar zu Tage tritt, so war es auch hier der Fall. Das Amt war kein bedeutendes gewesen, Vermögen nicht gesammelt worden. Die Dienstwohnung mußte verlassen werden, und Mutter und Tochter zogen in eine bescheidenere, als sicheres Einkommen nur die Pension genießend, die der Beamtenwittwe von Staatswegen zu Theil wurde.

Ein anderes Mädchenherz wäre dem Schmerze erlegen. Ihr stählte der Schmerz den Charakter, die innere Lebenskraft. Es war ein bescheidenes Stübchen, das Mutter und Tochter von jetzt ab ihr eigen nannten. Alles Ueberflüssige, alles Entbehrliche war verkauft worden. Sie lebte von nun ab für die Mutter; sie arbeitete für sie. Und als Letztere weinend die Hände auf ihr Haupt legte, sagte sie in ruhigem Ernst:

„Beklage mich nicht! Ich habe des Lebens schönstes Glück genossen; ich habe das Diadem der Freude getragen – und so will ich auch die Schattenseite von diesem Dasein dulden. – Es kommt ja nicht darauf an, wie lange man ein Glück genießt, sondern nur, daß man überhaupt von Gott gewürdigt wurde, es zu genießen. – Ich habe geliebt, treu, herzinnig, mit ganzer Kraft meiner Seele; ich werde dieser Liebe nicht für einen Augenblick uneingedenk bleiben, ich werde mich derselben nimmer schämen; aber an das Licht des Tages soll dieselbe niemals wieder treten. – Und wenn ich heut, zum ersten Mal nach seinem Scheiden, von dieser Liebe zu Dir, Mutter, spreche, so laß es auch das letzte Mal gewesen sein! – Ich will und werde diese Liebe niemals verleugnen; nein, offen will ich es bekennen: Ich habe ihn herzinnig lieb gehabt, wie nur ein Herz das andere lieben kann – aber sprechen davon laß uns nimmer wieder. Ich bin glücklich gewesen. Dieses Glück war zu groß, zu schön für mich; und um desselben willen vergebe und vergesse ich die Schmerzen, die sein Scheiden mir bereitet hat. Möge die Erinnerung an mich nie den Frieden seiner Seele trüben.“

Sie schwieg; – und niemals wurde des Gegenstandes wieder mit Worten gedacht. Keine der Bekannten, keine der Freundinnen erwähnte jemals dieser Liebe wieder. Sie wußten es Alle, daß sie diese Liebe noch immer verschwiegen in der Brust trug, daß sie aber auch zugleich dieselbe nicht durch ein profanes Wort entheiligt oder geschmäht wissen wollte. Den eigentlichen Grund, weshalb diese Herzen sich schieden, hat Niemand erfahren, sie hat ihn mit in’s Grab genommen.

Nur manches Mal in tiefer Nacht,
Wenn Alles ringsum schlief,
Ist sie aus bösem Traum erwacht,
Und seufzte schwer und tief.

Und unbewußt der Lippe leis’
Entfuhr ein Name dann
Indeß vom Auge fiebernd heiß
Einsam ’ne Thräne rann.

Sie hat gelebt, geschafft, gearbeitet für die Mutter. Und als diese, sie segnend, starb, blieb sie in dem Stübchen wohnen, das sie bislang inne gehabt – und schaffte und arbeitete mehr denn zuvor – für sich, für ihren Unterhalt. Kamen die Freundinnen, die Bekannten und baten, diese oder jene Unterstützung nachzusuchen, diese oder jene Hülfe anzunehmen, die ihr gut thun würde, da der Mutter Pension ja nun auch seit dem Tode derselben nicht mehr ausgezahlt würde, so schüttelte sie ernst das Haupt und sagte: „Nein, nein! nicht betteln! Der Staat hat genug zu ernähren; ich kann arbeiten; ich werde und will Niemand zur Last fallen.– Was thut’s, daß ich von früh auf bis spät in die Nacht hinein werde die Nadel führen müssen? Ich danke es meiner guten Mutter, daß sie mich das Nützliche, das Brauchbare lernen ließ, daß sie mich an ernste, ausdauernde Thätigkeit gewöhnte. – Ich werde nicht mehr, wie in jungen Jahren, am Clavier sitzen und singen können, aber meine Lieblingslieder kann ich mir noch immer, wie ehedem, bei der Arbeit summen. Was thut’s, daß ich nicht mehr Blumen und Bilder zeichnen kann, die ja doch im Ganzen genommen werthlos waren? Ich sticke dafür jetzt die schönsten Blumen und Arabesken in Tüll und Mull, und meine Gedanken sticke ich eben mit ein. Freilich! meine lieben Bücher, meinen Schiller, meinen Lessing, werde ich nicht mehr lesen können – ich muß meine Augen schonen. Doch sind sie mir deshalb gänzlich verloren? Wird die Recha des Nathan mir nicht immer gegenwärtig bleiben? Wird Schiller’s Louise, seine Maria, seine Thekla, seine Bertha mir nicht, wie sonst, zu Herzen sprechen? – Was ich liebte, das Gute, vergesse ich nimmer, nur das Böse suche ich aus meinem Gedächtnisse zu verbannen.“

Und nach einer Weile setzte sie, ein wenig schalkhaft lächelnd, hinzu: „Fürchtet auch nicht, daß ich in der Mode werde gänzlich zurückbleiben! Ihr wißt, ich hielt von jeher auf guten Stoff zu meinem Anzuge – und der veraltet immer weniger leicht, als solch unsolider Firlefanz. Ihr sollt in mir keine Vogelscheuche finden – die Euch die Gäste vertreibt, so ich einmal Euch zu besuchen komme.“ Das sprach sie Alles so sanft, so ruhig mild lächelnd, daß man ihr nicht zürnen konnte, aber daß man sie auch lassen mußte, wie sie war, wie sie blieb, wie sie sein wollte. ––

Und sie war und blieb einsam, still für sich, auf sich selbst bauend, sich selbst vertrauend. Die Jahre kamen und gingen. Ihre Freundinnen wurden verheirathet, sie wurden glückliche Mütter – und schickten nun, wenn sie nicht selber kommen konnten, ihre Kinder von Zeit zu Zeit zu der Freundin, die sie nicht vergessen hatten, die sie selbst noch zu besuchen kamen, hin und wieder, wie ehedem, da sie noch jung waren, da die Tage des Schmerzes, der Einsamkeit noch nicht gekommen waren. Sie selber klagte nie, sie blieb sich immer gleich, gleich mild, gleich freundlich, den Kindern eine liebe gute Tante, zu der sie gern gingen, zu der die Mütter sie gern sendeten.

Der Geheimrath, der drüben, ihr gegenüber, seit einiger Zeit in der theuren Wohnung wohnte, sah ihr Licht noch spät in der Nacht schimmern, wenn er von seinen Acten aufblickte oder aus fröhlicher Gesellschaft spät nach Hause kam. Er fand sie immer schon auf, still am Fenster nähend sitzen, wenn er früh des Morgens aufstand und zu seinem Tische ging. Er kannte sie, ihr Leben – er hatte sie von Jugend an gekannt. Sein Vater war Director des Instituts gewesen, an welchem der ihrige seine bescheidene Unterstelle gehabt hatte. Er gedachte des schönen, blühenden Mädchens, mit dem er sich als Knabe fröhlich durch den Garten getummelt hatte, dem er später als Jüngling so manche kleine Aufmerksamkeit erwiesen hatte, dessen Liebesleben den äußeren Umrissen nach ihm nicht unbekannt geblieben war. Jetzt sah er nun das alternde, einsam drüben am Fenster sitzende Mädchen, dessen Leben einst so glücklich, so heiter, sorgenlos zu werden versprach. Er konnte es nicht lassen, es drängte ihn, er mußte zu ihr gehen, er mußte sehen, wie es ihr ginge.

Und sie erkannte ihn gleich, sie erröthete ein wenig, als sie ihn eintreten sah. Aber es war nur einen Augenblick, und die flüchtige Scham, die sie empfand, daß sie in so beschränkten Verhältnissen dem gegenüber stehen mußte, der sie einst wohl anders wieder zu sehen erwartet hatte, war überwunden. Sie kam seiner offenen Güte, seiner Freundlichkeit herzlich entgegen. Sie wies seine angebotene Hülfe nicht zurück, aber sie nahm dieselbe auch nicht an.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_478.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)