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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

ist es eine ungeheuere Masse wildzerrissener, phantastischer Felsengebilde, deren Spitzen weit hinauf steigen in den blauen, sonnigen Himmel.

Es ist von außen schwer, sich zu denken, daß diese starren Felsenzacken die fruchtbarsten Thäler und Ebenen verbergen, reich an Getreide, Oel und Wein, reicher an unsäglichem Fluche, an Gefängnissen voller Gerippe neben Sterbenden, in deren Fleisch sich schwere Ketten tief hinein gedrückt, an Verhungerten, Verhungernden und lebendig halb Verwesten. Aber so fanden Schaaren Garibaldi’s, als sie solche Gefängnisse brachen, das Innere derselben. Der Befreier ist gekommen, aber nicht für die unzähligen Tausende, die bereits einem Moloch geopfert wurden, wie wir ihn wohl kaum je in der Weltgeschichte von Menschenopfern zehren sahen. –

Doch wir können wenig oder nichts von den Schauplätzen der letzten Befreiungskämpfe mittheilen, da nur verworrene und widersprechende Nachrichten an die sonnige Küste drangen, deren Bewohner ihr jährliches Mordfest feierten, um wieder ein Jahr leben zu können. Die „Kornkammer Rom’s,“ wie das alte Sicilien oder Trinacria hieß und war, kann jetzt nicht halb so viel Menschen nähren, als vor einem Jahrtausend. Und diese Hälfte würde vielleicht auch jetzt verkommen, wenn nicht die jährliche Ernte aus dem Meere ersetzte, was bourbonische Herrschaft, Polizei und Priester bis tief in den Boden unfruchtbar gemacht, mit Fluch, Furcht, Thatenlosigkeit, Aberglauben, Intrigue, Spionage und Verwahrlosung aller Art bedeckt haben.

Wo die tropische Sonne noch fruchtbar wirkt auf Sicilien, da blühen und fruchten das ganze Jahr hindurch Haine und Grotten voller Orangen und Oliven, und Feigenbäume und Reben bedecken die Abhänge oft bis zum Meere herab. Zwischen den Weinbergen wächst Getreide, das sein gutes Brod, aber nicht mehr hinreichend liefert. Felsenrücken und weite Wildnisse von Steingeröllen sind bedeckt mit indischen Feigen, einer phantastischen, gigantischen Art Cactus, dessen massive Blätter aus einander herauswachsen und pfirsichartige Früchte treiben, von denen die ärmeren Sicilianer oft Monate lang im Jahre leben müssen, da sie Brod nur als Delicatessc dazu essen können. Diese Cactuswände und Labyrinthe mit fächerartig auf- und übereinander ausschießenden, bis 14 Zoll langen Blättern charakterisiren fast alle landschaftlichen Gebilde Siciliens. Für Vieh wächst nichts, höchstens suchen kletternde Ziegen kärgliche Nahrung aus den Felsenklüften zusammen und liefern die nöthigste Milch. Rindvieh wird größtentheils von getrockneten Blättern der indischen Feige und türkischen Weizens gefüttert und gibt nur den Reichen mageres, erbärmliches Fleisch. Auf dem Fleischmarkte von Palermo kaufen sich die Leute ganze Haufen von gewöhnlichen Gartenschnecken oder ein Stückchen Polype (Sternfisch). Bohnen werden roh gegessen. Im Winter kommt theueres Kalbfleisch von Neapel. Aermere Leute müssen sich Jahr aus, Jahr ein mit Früchten des Cactus, Maccaroni, rohen Bohnen und verschiedenen Wurzeln behelfen. Fleisch können sie selten bezahlen, höchstens Fisch.

Haupt-Ernte unter den Bewohnern der ehemaligen „Kornkammer Roms“, wenigstens für die Küstenbewohner, ist daher die Fischerei. Und hier gibts nichts Charakteristischeres und Ergiebigeres als das jährliche Mordfest, zu welchem der Thun- oder Thunfischfang Veranlassung gibt. Der Thun[1], wie wir ihn der Kürze wegen nennen wollen, ist ein in Heerden ziehender Raub- und Wanderfisch und erreicht oft eine Größe von 5 – 7 Fuß in der Länge bei ziemlich derselben Breite. Vom April an Kommen sie in Zügen von verschiedener Zahl aus dem großen Ocean durch die Meerenge von Gibraltar und ziehen an den Küsten hin, wo sie Sardinen, Anchovis und Meergewächse für ihre Nahrung finden und unterwegs, an den sardinischen und ligurischen Gestaden, gelegentlich gefangen werden, bis sie, in der Straße von Messina von der Scylla und Charybdis, den Gegenströmungen aus dem adriatischen Meere, beunruhigt, um die Küste von Sicilien herum in ruhigerem Wasser, das sie lieben, den Weg nach ihren Sommerwohnungen im schwarzen Meere verfolgen. Auf diesem Umwege nun gerathen sie in die „Gemächer des Todes“, die man ihnen gebaut hat, um unter den Stichen und Stößen jauchzender, bluttriefender, fanatischer Menschen zu verenden und die Sicilianer mit ihrem substantiellen, kalbsartigen Fleische zu ernähren.

Schon Monate vorher waren Hunderte von Menschen eifrig beschäftigt, um die „Gemächer des Todes“ mit den gehörigen Vorzimmern bereit zu machen. Sie bestehen aus ungeheuren Netzen, die sich wirklich zu vier Wänden zusammenschließen und selbst einen Boden haben. Diese Netze werden von den Bewohnern selbst aus sparto, spanischem Seegras, und neapolitanischem Hanf bis zu 1500 Fuß Länge, 500 Weite und 50 bis 100 Tiefe verfertigt, und zwar zunächst die Fäden oder Taue dazu in Palermo, die in Solanto zu den verschiedenen Arten und Graden des Netzwerks verwebt werden. Solanto ist eine mit Fischerhütten bedeckte, felsig vorspringende Landzunge mit einem normännischen Schlosse in der Mitte, dem Wohnsitze des jetzigen Eigenthümers der Tonnara oder Thunfischerei. Es erhebt sich auf einem vorspringenden Felsen so weit über’s Meer, daß man von den Balcons die Fische in dem klaren Wasser schwimmen und in der klaren Luft Siciliens bis zu den liparischen Inseln sehen kann.

Vom März bis Juli ist hier Alles in vollster Thätigkeit. Die Arbeiter erhalten ihren bestimmten Tagelohn und bestimmte Profite von der Ernte, für deren Gelingen sie demnach alle ihre Kräfte aufbieten. Mit eintretendem warmen Wetter, das bald zur Hitze wird, schlafen sie offen und oft halb nackt auf dem Sande der Meeresküste, von den weichen Lüften wärmer zugedeckt, als wir von unsern Federbetten, neben welchen keine friedlichen Meereswogen murmeln und plätschern.

Anfangs April sind die Netze fertig und werden in großen Booten mit einer gehörigen Menge großer Steine und Korkstücken bereit gehalten, bis das Wasser still und klar ist. Namentlich muß das Meer von den häufig vorkommenden rema’s oder Unterströmungen frei sein, weil sonst die Netze nicht, wie erforderlich, senkrecht wie Wände eingesenkt werden könnten. Wächter müssen ununterbrochen in Booten auf dem Meere, auf dem Bauche liegend, dessen untere und innere Bewegungen beobachten, bis sie es still finden. Jetzt ruft ein Zeichen alle harrenden Boote herbei, die etwa 1/4 Meile vom Gestade die Netze senken und zu verschiedenen geschlossenen Gemächern vereinigen. Oeffnungen, die aus einem in das andere führen, können durch heraufgezogenes Netzwerk von oben her geschlossen werden. Dies geschieht, um die Fische aus einem in das andere ziehen zu lassen, hinter ihnen zu schließen und die ersteren für neue Ankömmlinge wieder zu öffnen. Sind eine gehörige Anzahl endlich im „Leva“, dem letzten der „Gemächer des Todes“ versammelt, so wird der unter demselben angebrachte starke Netzboden heraufgezogen und die Gefangenen mit ihm.

Doch so weit sind wir noch nicht. Wenn die Netze in gehöriger Ordnung gesenkt, gefächert und geschlossen sind, wird erst der heilige Antonius, als specieller Schutzheiliger der Fischer der einmal vergebens den Heiden predigte, so daß er die Fische im Meere anrief, die dann auch zu ihm auf’s Land kamen, ihm andächtig zuhörten und sehr erbaut wieder in’s Wasser gingen) angerufen und der Segen der Kirche über die Netze gesprochen. Ein in der Kirche geweihter, riesiger Olivenzweig wird in der Mitte der Tonnara oder des Netzwerkes befestigt und ein Geistlicher im Boote von einem Werke zum andern gefahren, um den Segen zu sprechen. Jetzt gilt es, zu warten und zu wachen. Ueber dem offenen Eingange zu dem ersten Netz-Zimmer liegen die Wächter in ihren Booten unter einer schattenden Leinwanddecke auf ihren Bäuchen, zuweilen Oel auf die Oberfläche gießend, um sie blank und ruhig zu halten und die blaue Tiefe zu durchschauen, bis sie Gefangene anmelden, den ersten Eingang schließen und die Beute von einem Gemache zum andern verleiten können. Doch werden sie oft lange, manchmal mehrere Tage hinter einander, alle drei Stunden abgelöst, ehe das „Zimmer des Todes“ befriedigend gefüllt ist. Dann aber wird’s nach langer Ruhe desto lebendiger und dramatischer. Ein Signal von den Wächtern her wird der ganzen Volksmasse, die sich weit umher im Kreise auf lustigen Booten, Gondeln und Schiffen aller Art eingefunden, durch eine rothe Flagge auf der Thurmspitze des Schlosses zutelegraphirt.

„Bandiera a Solanto!“ (Flagge auf Solanto) schreit und jubelt es nun weit hin über das sonnige Meer und an den Gestaden entlang bis in die höchsten Felsen hinauf.„Bandiera a Solanto!“

Die Fischer oder Schlächter, die bisher in der Ferne warteten, schießen mit fanatischem Geschrei heran. Ihre Spieße oder Harpunen blitzen mit ihren Augen in den braunen Gesichtern um die Wette in der Sonne. Die Boote, Schiffe, Gondeln von Palermo und den Küstenörtern drängen sich zu einem engen Kreise

  1. Von Linné „scomber thynnus“ genannt, Thun oder Thunfisch.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_462.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)