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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Unter der freundlichen und lehrreichen Führung des Directors der Anstalt, Dr. Georgi, besuchen wir nun die übrigen Lehr- und Unterrichtssäle, und ein Bild des geschäftigsten Treibens, der unermüdlichsten Thätigkeit und Geschicklichkeit entrollt sich vor unsern Blicken. Wahrlich, hier hat der menschliche Scharfsinn, gepaart mit der erhabensten Geduld und Humanität, Alles gethan, die armen Mitgeschöpfe auf möglichst gleiche Stufe mit uns Vollsinnigen zu stellen, hier ist Nichts unterlassen, Nichts unberücksichtigt geblieben, dem Blinden ein geistiges Auge zu erschließen, mit dessen Hülfe er arbeitet, lernt und strebt, als ob er den Verlust des körperlichen nicht zu beklagen hätte. Dieses geistige Auge, leuchtend aus finsterer Nacht, regiert seine Hände, schärft sein Gehör, Gefühl und seine Gedächtnißkraft in einem Maße, daß diese Wesen die ganze Größe ihres Unglücks kaum ahnen, sondern sich in ihrer kleinen Welt vielleicht glücklich und zufrieden fühlen. Das Seelenleben der Blinden ist gleich geheimnißvoll wie die letzten Momente Sterbender – aber gewiß haben sie Phantasiegebilde, Erscheinungen und Träume so holder Art, wie Gesunde sie niemals schauen werden.

Geographischer Unterricht.
Director Georgi mit zwei Zöglingen.

Dr. Georgi war u. A. so gütig, in unserer Gegenwart geographische Uebungen mit einigen blinden Mädchen vorzunehmen. Diese standen alsbald vor einer großen Karte, deren Länder erhaben gearbeitet waren, die Hauptstädte durch Metallknöpfe bezeichnet, das Ganze aber überzogen mit Quadraten aus Messingdrähten. Nun ging es an ein Fragen der bekanntesten, wie entferntesten Städte, nach Seen, Meerengen, Gebirgen und Canälen, und kaum war die Frage ausgesprochen, so glitten die zarten Finger der Mädchen in erstaunlicher Schnelligkeit von Süd nach Nord, von Ost nach West, und bezeichneten die fragliche Stelle.

Director Georgi, eine Autorität in Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus, ein Mann des gründlichsten Wissens und der ausgebreitetsten Erfahrungen, zeigte hier wie später die glücklichste Umgangsweise mit seinen Zöglingen. Wo es passend schien, flocht er ein gütiges Wort, sogar einen leichten Scherz ein, und man sah immer ein leises, gückliches Lächeln auf den Gesichtern der armen Blinden, so oft eine scherzhafte Bemerkung von den Lippen dessen floß, der wie ein Vater unter seinen Kindern stand und durch heitere Worte und milde Reden Balsam in ihre liebebedürftigen Herzen streute. Wenn wir daher unsern Lesern das Bild dieses Mannes vorführen, dessen ebenso bescheidenes, als mühevolles Wirken Jeden mit Achtung erfüllen muß, glauben wir nur einer Pflicht genügt zu haben.

Der Schreib- und Leseunterricht ist jedenfalls der mühsamste für Lehrer und Schüler. Zu diesem Zweck hat der Franzose Louis Braille[WS 1] eine Punktirschrift erfunden, welche die Blinden in Stand setzt, sowohl unter sich, wie mit ihren Lehrern in schriftlichen Verkehr zu treten. Zu unserer Abbildung geben wir folgende kurzgefaßte Erläuterung: der blinde Zögling hat eine Zinktafel vor sich, deren Oberfläche von gleichlaufenden, wagerechten Linien durchfurcht ist, sodaß das Ganze einem sorgfältig gepflügten Felde gleicht. Quer über die Tafel legt er eine messingene Schablone, die zu beiden Seiten sich dem Holzrahmen der Tafel genau anschmiegt und über denselben herumgreift, sodaß sie bequem herauf und herunter geschoben werden kann, ohne aus ihrer winkelrechten Lage zu kommen. Die Schablone ist ungefähr ein Zoll breit und durch dieselbe eine Doppelreihe länglicher Vierecke geschlagen. Ein jedes dieser Vierecke ist so hoch, daß es drei Furchen oder Linien erscheinen läßt, in welche, nachdem unter die Schablone ein Blatt starkes Papier gelegt wurde, mit einem mäßig spitzen Griffel hineingedrückt und somit das Papier durchstochen wird. Jedes der Vierecke läßt Raum für zwei nebeneinander stehende Punkte, weshalb jede der Oeffnungen sechs Punkte zuläßt, aus welchen Baille durch die mannichfachsten Variationen ein Alphabet zusammensetzte und seine Punktirschrift erfand. Noch ist zu bemerken, daß

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Baille
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_428.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)