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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Die Berathungen mußten zu einem Entschlusse führen, vielmehr zu der Ausführung eines Entschlusses. Denn daß ich in das Schloß hinein mußte, um dort weiter für die Zwecke der Untersuchung zu handeln, war für meine Pflicht keine Frage. Es kam nur darauf an, wann und wie vorangegangen werden sollte. Ein sofortiger, nächtlicher Ueberfall erschien nach Allem das Rathsamste. Er allein bot die Chance einer Ueberraschung, auf die Alles ankam. Er war dafür mit persönlicher Gefahr verknüpft. Bei Tage und wenn ich, ohne überfallen oder überraschen zu wollen, offen im Namen des Gesetzes Einlaß in das Schloß verlangte, war eine Widersetzung, wenigstens eine thätliche, bewaffnete, nicht wohl zu befürchten. Es stand dann aber auch den Verfolgten sicheres Entkommen und sicheres Vernichten aller Beweisstücke frei. Ich glaubte keine Wahl zu haben. Auf Gefahr, auf einen Kampf, auf einen erbitterten Kampf sogar mit den rohen Gesellen war ich gefaßt und brach sofort auf. Der alte Schulze schloß sich an mich an, eben so noch ein in der Nähe stationirter Gensd’arm des Kreises, den einer von meinen Leuten unterdeß herbeigerufen hatte.

Es waren unser im Ganzen zehn Personen. Zwei Gerichtsexecutoren und vier Gensd’armen hatte ich mitgebracht; dazu der Schulze und der Gensd’arm des Kreises; endlich mein Secretair und ich. Der Secretair war ein alter Mann. Ich wollte ihn einer Gefahr nicht aussetzen und ließ ihn in der Wohnung des Schulzen zurück. Wir neun Andern machten uns auf den Weg. Wir waren sämmtlich bewaffnet. Fünf von uns gingen zu Fuß. Ein Executor und drei Gensd’armen blieben zu Pferde; für den Fall, daß eine schleunige Verfolgung Noth thue. Unser Operationsplan stand vorläufig nur im Allgemeinen fest. Ein Theil von uns sollte Einlaß in das Schloß suchen, der andere unterdeß thunlich die Ausgänge des Schlosses besetzen. Das Einzelne konnte erst Angesichts des Schlosses festgestellt werden.

Es war ein dunkler Octoberabend. Kein Stern am Himmel. Ein heftiger Westwind zog über das Land. In dem Walde hörte man ihn brausen. Das Haus des Schulzen lag in einer Bergschlucht. Der Weg zu dem Schlosse Diburg führte eine Zeitlang durch die Schlucht, dann einen Berg hinan, der mit Wald bedeckt war. Oben auf der Höhe, sagte der Schulze, liege das Schloß. Wir stiegen immer hinan, fast eine ganze Stunde lang. Der Wald verließ uns nicht. Anfangs gingen wir in einem schmalen, sich den Berg hinauf windenden Fahrwege. Bald verließen wir seine Krümmungen. Der Schulze führte uns in geraderer Richtung auf keinem gebahnten Wege, aber sicher unter den Bäumen weg. Er war hier überall bekannt. Wir hatten so den doppelten Vortheil, schneller an unserem Ziele anzulangen und Niemandem zu begegnen. Wir begegneten wirklich Niemandem und hörten auch kein Geräusch. Der Wind strich mitunter heulend durch die Bäume; das war der einzige Ton, der an unser Ohr schlug. Wir erreichten die Höhe des Berges, das Ende des Waldes. In der Dunkelheit lag eine dunkle Fläche vor uns. Sie lief hinten spitz zu. An der Spitze war eine Erhöhung.

„Das Schloß Diburg,“ sagte der Schulze. „Es liegt auf einem Felsen; es ist fast in den Felsen hineingebaut. Auf seiner anderen Seite ist unmittelbar jäher Abgrund; Fels und Mauern reichen steil hinein. Dort sind die verborgenen Ausgangspfade, die nur der Schloßherr kennt. Unten ist wieder dichter Wald.“

Wir hatten Halt gemacht. Wir konnten etwa zehn Minuten von dem Schlosse entfernt sein. Ein Licht war nicht darin zu sehen, Geräusch nicht zu hören. Wir gingen weiter, auf das Schloß zu. Wir waren auf ehemaligem Waldboden. Die Bäume, die dort gestanden, hatte der Schloßherr wohl schon vor Jahren zu Gelde gemacht, vielleicht schon der Vater des jetzigen. Der Grund war dann unbebaut liegen geblieben. Nach ein paar Minuten kamen wir an einen Weg. Er führte in gerader Linie auf das Schloß zu. Von diesem konnte man jetzt die Umrisse erkennen. Wir waren bis dahin beisammen geblieben. Es mußte nun zunächst, und zwar mit der größten Vorsicht, recognoscirt werden.

Ich ging mit dem Schulzen allein weiter, nach dem Schlosse hin. Wir blieben in dem Wege. Er führte bald zwischen Land, das Spuren einer Bebauung zeigte. Aber wie alt mußte diese sein! Es war einst ein Park hier gewesen, der Schloßpark. Man sah jetzt nur Verfall, Verwüstung. Wir kamen näher an das Schloß selbst. Seine Umrisse zeigten sich trotz der Dunkelheit deutlicher. Es war kein weites Gebäude. Der Felsenvorsprung, auf den und in den hinein es gebaut war, hatte eine weite Flächenausdehnung des Baues nicht zugelassen; man hatte es dafür höher gebaut, mit Spitzen und Thürmen, mit Erkern und Giebeln. Es war ein alterthümlicher Bau. Aber es war kein stolzer Bau mehr. Früher gewiß. Früher hatte auch ein stolzes, blühendes freiherrliches Geschlecht darin gewohnt! Aber wohnten nicht noch ein Freiherr und ein Freifräulein darin? Gewiß. Aber das Freifräulein war arm, elend und abgezehrt und hatte seit Jahren keine andere Hoffnung als auf den Himmel. Und der Freiherr war ein Räuber und Mörder. Ich hätte beinahe auflachen müssen. Waren seine mittelalterlichen Vorfahren nicht dasselbe gewesen? Und hatte das nicht ihren Ruhm, ihren Stolz, ihren Glanz ausgemacht? Warum war es denn jetzt nicht mehr so?

„Es erben sich Gesetz’ und Rechte
Wie eine Krankheit fort!“

Doch wohl nicht immer! – Es war still in dem alten, hohen Schlosse. Es lag wie todt da, kein Licht und kein Laut drang herüber. Nur der Wind pfiff um Mauern und Thürme. Wir gingen unmittelbar heran und standen an einer hohen Mauer. In ihr befand sich ein fest mit Eisen beschlagenes Thor, welches verschlossen war.

„Die Mauer,“ sagte der Schulze, „umgibt das Schloß nach beiden Seiten bis an den Felsenabhang. Das Thor ist der einzige Eingang. Ein Ausgangspförtchen auf der Rückseite ist noch da; man kann aber nur aus dem Innern des Schlosses hingelangen.“

Es war zehn Uhr Abends.

„Sollten die Bewohner des Schlosses schon schlafen?“

„Ich glaube kaum,“ meinte der Schulze. „Sie zechen gewöhnlich bis in die Nacht.“

„Aber man hört nichts.“

„Sie können auf jener Seite sein, und der Wind kommt von dieser. Zudem, wenn sie schliefen –“ Der Schulze unterbrach sich. „Was war das?“

„Hörten Sie etwas?“

„Da, jenseits des Thors. Ich wollte gerade sagen, daß während der Nacht, wenn sie im Schlosse zu Bett sind, ein Paar der großen Hunde zur Wache hinausgelassen werden, und da –“

„Und da?“

In demselben Moment ertönte ein lautes Hundegebell, dicht neben uns, unmittelbar an der anderen Seite des verschlossenen Thors.

„Sollten sie doch schon schlafen?“ sagte der Schulze.

„Die Hunde werden uns verrathen,“ sagte ich.

„Das haben sie schon, und die Thiere werden nicht wieder aufhören.“

„Also, es bleibt nur noch ein rascher Entschluß.“

„Nichts Anderes,“ bestätigte der Schulze.

„Voran! Ich poche an das Thor. Sie, Schulze, eilen zu den Andern und rufen sie herbei.“

Er war schon fort. Die Hunde – es waren ihrer zwei bellten in rasendem Geheul. Ich pochte inzwischen mit einem Stock an das Thor. Der Wind schlug, um die Wette mit den Hunden heulend, an die Mauern, Erker und Zinnen des Schlosses. Die Wetterfahnen auf den Thürmen flogen schrillend hin und her. Es war die gräulichste Katzenmusik in dem Dunkel der Nacht, auf dem einsamen hohen Berge, an dem alten, verfallenen Schlosse. In dem Gebäude selbst regte sich nichts.

Der Schulze kehrte zurück. Die Gensd’armen und Executoren kamen mit ihm. Es konnte doch noch ein Plan gemacht werden. Der Gensd’arm des Kreises kannte den Weg, der von der Anhöhe hinunter in die Schlucht jenseits des Schlosses führte. Dort mußte der verborgene Ausgang aus dem Schlosse münden. Wo? wußte Niemand. Aber der Zufall konnte Glück bringen. Ich ließ den Gensd’armen mit zwei anderen und einem Executor den Weg hinunter sprengen, die Schlucht zu besetzen und auf Flüchtlinge Wache zu halten. In dem Schlosse war es noch immer still. Nur die Hunde heulten fort, und nur das Wetter tobte fort.

„Man will uns nicht hören! So kann man uns die ganze Nacht warten lassen.“

Darauf waren wir nicht vorbereitet gewesen, wohl aber der alte Schulze.

„Ich kenne das alte Thor,“ sagte er. „Es sieht nur fest aus. Mit einem alten Baumstamm, der in dem alten Park noch zu finden sein wird, rennen wir es ein. Pochen wir vorher noch einmal.“

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