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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ich habe das Glück, so manchen trefflichen Mann, der nicht meines Glaubens ist, zum Freunde zu haben. Ich genieße die Wollust ihres Umganges, der mich bessert und ergötzt. Niemals hat mir mein Herz heimlich zugerufen: Schade für die schöne Seele!

„Nur die feierliche Beschwörung eines Lavater nöthigt mich, wenigstens meine Gesinnungen öffentlich an den Tag zu legen, damit Niemand ein zu weit getriebenes Stillschweigen für Verachtung oder Geständniß halten möge. Herr Bonnet kann vielleicht nur für solche Leser geschrieben haben, die, wie er, überzeugt sind und nur lesen, um sich in ihrem Glauben zu bestärken. Seine innere Ueberzeugung und ein löblicher Eifer für die Religion scheinen seinen Beweisgründen ein Gewicht zugelegt zu haben, das ein Anderer nicht darin finden kann.“

Die ausweichende Antwort Mendelssohns fand die allgemeinste Billigung und Anerkennung; selbst der berühmte Mirabeau hielt sie für werth, in’s Französische übersetzt zu werden, was er auch selbst, wenn auch nur im Auszuge, that. Lavater’s Benehmen wurde dagegen von seinen eigenen Freunden und zunächst von Bonnet getadelt, der seine Dedication mißbilligte und ihm seine Indiscretion vorwarf. Von allen Seiten angegriffen, sah er wohl sein Unrecht ein und suchte sich durch einen Brief zu entschuldigen, den er Mendelssohn durch den ehrwürdigen Spalding übergeben ließ.

Das Schreiben lautete: „Verehrungswürdiger Herr! Diesen Namen geb’ ich Ihnen mit vieler Ueberzeugung. Die redlichste Absicht hat mich gezwungen, Ihnen Bonnet’s Untersuchung zuzueignen. Bonnet selbst meint, ich sei indiscret gegen Sie gewesen, Freunde in Berlin meinen es auch. Wenn Sie es auch so ansehen, so dürfen Sie nur sagen, nur einen Wink mir oder einem meiner Freunde geben, ob und wie ich diese Indiscretion, die doch wahrlich im Grunde das nicht sein sollte, wieder gut machen soll. Ich werde zufrieden sein, wenn Sie die Sache sonst Ihrer Untersuchung würdigen werden.

„Vergeben Sie mir – was? – daß ich Sie liebe, hochschätze – Ihr Glück in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt wünsche. Vergeben Sie mir, wenn ich den unrechten Weg eingeschlagen habe, Ihnen dieses zu bezeugen.“

Zugleich mußte Lavater eingestehen, daß er das Vertrauen seines Freundes gemißbraucht. „Ich weiß mich,“ sagte er in einem späteren Briefe, „so deutlich als möglich zu erinnern, daß ich die Versicherung an Sie ergehen ließ, Sie möchten wider das Christenthum sagen, was sie wollten, so werde ich niemals einen indiscreten, Ihnen nachtheiligen Gebrauch davon machen. Glauben Sie mir, damals war es mir genau so wie jetzt – ich möchte Alles wissen, was sich wider das Christenthum von redlichen, unparteiischen Philosophen sagen läßt. In allen Dingen, die von Menschen herrühren, kann man Nachsicht haben, aber Gott bedarf keiner Nachsicht.“

Der eben so kluge als gute Mendelssohn begnügte sich mit diesen Entschuldigungen, denen er selbst noch folgende für die Öffentlichkeit bestimmte Worte hinzufügte: „Ich erkenne,“ sagte er, „in Lavater’s Betragen seine gute Gesinnung und Freundschaft für mich, der Inhalt seiner Antwort aber zeigt, meines Erachtens, seinen moralischen Charakter von der vortrefflichsten Seite. Man findet in derselben die untrüglichsten Merkmale der wahren Menschenliebe und echten Gottesfurcht, brennenden Eifer für das Gute und Wahre, ungeschminkte Rechtschaffenheit und eine Bescheidenheit, die der Demuth nahe kommt. Es freut mich ungemein, daß ich den Werth der edelmüthigen Seele nie verkannt habe. – Ueberschwängliche Gütigkeit ist es, wenn Herr Lavater mich öffentlich um Verzeihung bittet.“

So triumphirte der jüdische Philosoph über den christlichen Geistlichen durch den Geist der Liebe, Duldung und Sanftmuth, wie ihn Jesus selbst seinen Jüngern und Nachfolgern gelehrt. Was Mendelssohn aber aus weiser Rücksicht unterlassen, that vielleicht in Folge jenes Streites mit Lavater der kühnere Lessing. Er ließ die bekannten „Wolfenbüttel’schen Fragmente eines Unbekannten“ erscheinen und züchtigte den gleißnerischen Hochmuth des Pfaffenthums, wenn auch nicht in der Person Lavater’s, so doch wenigstens an dem Ehrenpastor Götze, dessen Unduldsamkeit, Lieblosigkeit und Verdammungssucht Andersgläubiger er für immer an den Pranger stellte, so wie er der Toleranz und Humanität seines Freundes Mendelssohn ein ewiges Denkmal in seinem „Nathan“ stiftete, dessen „Geschichte von den drei Ringen“ zu dem Herrlichsten gehört, was nicht nur die deutsche Literatur, sondern die Menschheit überhaupt aufzuweisen hat.

Der bekannte Maler Professor Oppenheim in Frankfurt benutzte das kurze Zusammenleben Mendelssohns, Lessings und Lavaters zu einem vortrefflichen Gemälde, das sich jetzt in der Carlsruher Gemäldegallerie befindet und dessen Nachbildung uns von dem Künstler freundlichst gestattet wurde. Wenn auch der Holzschnitt die vielen Schönheiten des Oelgemäldes nicht wiedergeben kann, so zeigt schon die geistvolle Composition und die charakteristische Auffassung der Persönlichkeiten, wie hochbegabt der Künstler für diese Richtung der Kunst ist.




Nervosität, Nervenschwäche, Nervös.

Nervös“ kann ebensogut eine Krankheit wie ein Mensch sein und werden; bei beiden ist das Nervöse die Folge einer veränderten Thätigkeit im Nervensysteme. – Von einer Krankheit pflegt man zu sagen, sie sei nervös geworden, wenn, in der Regel neben heftigeren Fiebererscheinungen, Störungen in der Hirn- und Nerventhätigkeit (Gehirnsymptome, typhoide Erscheinungen) auftreten, wie: heftiger Kopfschmerz, Eingenommenheit des Kopfes, große Unruhe und Aufregbarkeit, Schlaflosigkeit oder Schlaftaumel und Schlafsucht, Sinnestäuschungen, Schwindel, Irrereden, Krampfzustände, Zittern, Fliegenfangen und Flockenlesen, lallende Sprache, Bewußtlosigkeit und unwillkürliche Ausleerungen. Diese nervösen Symptome, die wahrscheinlich in den meisten Fällen die Folge der Einwirkung entarteten Blutes auf die Hirnsubstanz sind, können sich zu den allerverschiedenartigsten Krankheiten (zumal zu den sogenannten Blutkrankheiten) gesellen, und diese werden dadurch also in ihrem Verlaufe allerdings nervös, niemals aber zum Nervenfieber (Typhus), denn dieses ist eine ganz bestimmte Krankheit und gleich von Haus aus Nervenfieber, ja verläuft bisweilen sogar ohne alle nervösen Symptome (s. Gartenl. 1856, Nr. 10).

Was man nun aber beim Menschen im gewöhnlichen Leben als „nervös“ und „krankhafte Nervenreizbarkeit“ (Sensibilität) bezeichnet, ist in den allermeisten Fällen, zumal bei Frauen und Kindern, nichts als „Unart, Unerzogenheit, Launenhaftigkeit, schlechte Angewöhnung und Mangel an Selbstbeherrschung.“ – Wenn z. B. einem Muttersöhnchen, dem von Geburt an aller Wille gethan und jede Unart nachgesehen wurde, etwas verweigert wird und deshalb der Bengel (der eine tüchtige Tracht Hiebe bekommen sollte) außer sich geräth, so ist „das liebe Kind zu sensibel und muß ja vor aller Aufregung (besonders von Seiten der Dienstleute) in Acht genommen werden.“ – Verfällt eine Frau in krampfhaftes Schluchzen und Zittern, wenn nicht gleich Alles nach ihrem Kopfe geht, dann hat sicherlich der Wütherich von einem Manne die Nerven der armen zart-besaiteten Frau nicht genug geschont, und diese leiden nun an Schwäche. – Behandeln Vorgesetzte ihre Untergebenen, Hausfrauen ihr Dienstmädchen, nicht selten nur einer Kleinigkeit wegen, auf brutale Weise, dann wollen sie „krankhaft reizbar und ärgerlich“, aber sonst die humansten und sanftesten Seelen von der Welt sein. – Geräth ein Dämchen beim Gewitter, beim Anblick einer Raupe oder beim Knabbern einer Maus u. s. f. in blassen Schreck und schreiende Angst, dann ist dies natürlich keine Unart, sondern nur das Zeichen einer nervösen Constitution und soll wohl gar noch von einem zarten, echt weiblichen, poetischen Gemüthe zeugen. Kurz, schon das Wort „nervös“, noch mehr aber das sogen. nervöse Gebahren vieler Menschen macht mich auch nervös, das heißt bei mir aber richtiger „grob“.

Trotzdem gibt es aber doch einen Zustand des Nervensystems, bei welchem ohne sichtbare krankhafte Veränderungen der Nervensubstanz die Thätigkeit (Sensibilität) derselben sich außergewöhnlich träge oder gesteigert zeigt, so daß man allerdings von Nervenschwäche und krankhafter Nervenreizbarkeit (reizbarer Schwäche, widernatürlich gesteigerter Sensibilität) sprechen kann (s. Gartenl. 1860, Nr. 3). Da nun dieser außergewöhnliche Zustand in allen Abtheilungen des Nervensystems (also im Geistes-, Sinnes-, Empfindungs- und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_391.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)