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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Mein Herr,“ rief sie schmerzlich, „ich bin eine Unglückliche, eine tief Unglückliche, und nun muß auch noch dieser entsetzliche Verdacht auf mich fallen. Er muß auf mich fallen, Sie haben Recht, thun Sie Alles mit mir, was Ihre Pflicht von Ihnen fordert, nur eins verlangen Sie nicht von mir: meine Geheimnisse, die ich Ihnen vorhin nicht entdecken konnte, müssen auch ferner bei mir bleiben; sie sind nicht mein Eigenthum, sie sind mir heilig, unverletzlich. Aber daß sie nicht schuldhaft sind, daß ich keine Schuldige bin, o, mein Herr! – nein, nein, glauben Sie es nicht, Sie dürfen es nicht glauben, um Ihres Amtes willen nicht, um meinetwillen nicht; ja, auch um meinetwillen nicht. Meine Unschuld, die Grundlosigkeit Ihres Verdachtes muß völlig an den Tag kommen. Hier, mein Herr, untersuchen Sie meine Sachen, es ist nur Weniges; durchsuchen Sie Alles hier! Ich bitte jetzt selbst darum, ich verlange es.“

Sie sprach in der Leidenschaft eines großen, starken, heftigen Schmerzes und sie sah wieder edel aus; aber ich hatte jenes plötzliche Aufzucken gesehen, ich hatte es wirklich gesehen. Erst jetzt wurde es mir auf einmal klar, es trat wieder vor mich und so sonderbar. Es war plötzlich ein Gedanke in ihr aufgeschossen, wie mit Feindseligkeit; dann hatte sie nachgesonnen und den Gedanken fallen lassen, der Schmerzensausbruch war an seine Stelle getreten, und dieser konnte jenes Andere natürlich zurückgedrängt haben. Es konnte aber auch Kunst sein, daß sie auf einmal auf der Durchsuchung ihrer Sachen bestand – wie oft schon hatte ich ein solch gemachtes Pochen auf Unschuld und Herausfordern des Richters erfahren, nur nicht so geschickt, so natürlich! Sie wollen dadurch sicher machen, der Richter soll mit weniger Sorgfalt verfahren, vielleicht ganz vertrauen und Abstand nehmen.

„Ich bin in meinem Rechte, mein Fräulein,“ sagte ich, „also in meiner Pflicht. Ich bitte, mich zu controliren.“

„Ich verzichte darauf,“ erwiderte sie stolz.

Sie hatte nur wenige Sachen bei sich, welche sie in einem leichten Reisenachtsack mitgebracht hatte. Diesen stellte sie jetzt geöffnet vor mich auf den Tisch. Außerdem war nur ein Schrank in der Stube, welchen sie aufschloß und hierauf auch die an dem Tische befindliche Ziehlade herauszog. Der Schrank war leer und in der Tischlade lagen nur Toilettengegenstände, auch den Reisesack durchsuchte ich, welcher jedoch nur Wäsche und Kleidungsstücke enthielt. Sie erröthete, als ich einen Blick in den leeren Schrank geworfen und mich nun zu dem Wenigen, fast Aermlichen in dem Reisesack wandte.

„Meine eigenthümliche Lage,“ sagte sie, „hat mich gezwungen, nur das Allernothwendigste bei mir zu führen.“

Es war so echt weiblich, und in diesem Augenblicke! Hatte ich mich in ihr geirrt? oder war sie auch nur sicher, daß ich nichts finden werde? Ich sah dennoch Alles genau nach, während sie in der Stube umherging und dabei nicht nach mir hinsah; aber sie ging langsam, leise, wie man unwillkürlich thut, wenn man genau auf einen Andern achtet, zumal wenn man sich zugleich das Ansehen der Unachtsamkeit geben will. Und als ich einmal unerwartet nach ihr hinsah, begegnete ich einem halben Seitenblicke, der sich schnell von mir abwendete, und – sie war nicht mehr schön. Diese Entstellung war Angst, und die Angst war Schuld, Mitschuld.

Ich setzte sorgfältiger meine Nachsuchung fort und nahm die Sachen aus dem Reisesack Stück für Stück hervor, legte sie auseinander, besah, befühlte sie genau und fand nichts Verdächtiges, nichts, was dem Ermordeten hätte angehören können. Alles war weibliche Kleidung, weibliche Wäsche, ärmlich und nicht sehr ordentlich; die Aermlichkeit hatte sie entschuldigt. Sämmtliche Wäsche war mit den Buchstaben A. H. gezeichnet, die auch zu dem Namen, den sie mir angegeben hatte, stimmten. Geld fand ich gar nicht vor, außer diesem jedoch hatte ich an Pretiosen des Ermordeten, an die Uhr und an die beiden Ringe gedacht, auch davon fand ich nichts.

Mit dem Durchsuchen des Reisesackes war ich jetzt fertig, der Schrank stand noch offen, in dem man aber nichts sah; nur unten in einer Ecke hätte sich vielleicht ein nicht umfangreicher Gegenstand verbergen können.

Ehe ich danach sah, wollte ich noch einmal in der Tischlade suchen, da ich vorher nur flüchtig hingeblickt hatte. Die Fremde ging noch immer langsam und leise in der Stube umher und war noch nicht wieder schön. Sollte ich noch etwas finden? Einzeln nahm ich die Kämme, die Bürsten, die Seife, die Haarnadeln in die Hand, faltete die zu Papilloten zusammengedrehten Papierstückchen auseinander und fand nichts.

„Sie führen Reisegeld bei sich, Fräulein?“ fragte ich sie.

„Gewiß, mein Herr.“ Sie zog aus der Tasche ihres Kleides eine Börse und ein Portemonnaie hervor und übergab mir Beides. Sie sah mich leise, versteckt triumphirend an.

In der Börse waren etwa vierzig Stück Louisd’or. Das Portemonnaie enthielt Geld für kleine Ausgaben. Ich gab ihr beide Sachen zurück. Warum hatte sie nach jener Angst triumphirt? Ich mußte noch etwas finden. Ich stand noch vor der Tischlade. Zwischen losen Haarnadeln lag ein Päckchen zusammengebundener. Ein feiner Draht war herumgewunden. Es war dem Anscheine nach noch unberührt, wie es aus dem Laden gekommen war. Ein sinnreicher, glücklicher Versteck, mußte ich bei mir denken. Ich nahm das Päckchen wie spielend in die Hand. Sie stand noch neben mir und hatte soeben Börse und Portemonnaie von mir zurückempfangen. Sie sah mein Spielen. Leise wollte sie ihre Promenade durch das Zimmer fortsetzen, sie blieb. Nach mir wollte sie nicht hinsehen, aber ihre Augen hafteten auf meinen Fingern. Ich bog den Draht zurück, mit dem das Päckchen umwunden war. Wie unbewußt abwehrend hob sie ihre Hand auf. Die Haarnadeln fielen auseinander.

„Ach, mein Herr –“ sagte sie lächelnd. Sie lächelte in der That, wie wenn ihr plötzlich etwas einfalle, und doch schmerzlich.

„Ein Ring?“ schnitt ich ihre weiteren Worte ab.

„Ein Ring, mein Herr! Ein Andenken meiner verstorbenen Mutter.“

„In diesem Versteck?“

„War er sicher vor einem Diebstahle!“

Die Worte waren nicht ganz ruhig gesprochen. Sie waren hingeworfen, kurz, heftig und doch unsicher.

Ein einfacher, schmaler Goldreif, in den aber ein schöner, sehr kostbarer Diamant eingefaßt war, war aus den aufgelösten Haarnadeln hervorgerollt. Ich mußte mich zusammennehmen. Jene Einschnitte, die von getragenen Ringen an den Fingern des Ermordeten zurückgeblieben waren, standen lebendig genug vor meinen Augen. Zu dem schmaleren paßte dieser Goldreif. Aber ich konnte mich irren. Die Untersuchungsacten, die ich mitgebracht hatte und welche mein Protokollführer trug, waren bisher noch nicht geöffnet; sie enthielten eine genaue Abbildung, Beschreibung und Vermessung der Einschnitte. Ich nahm sie dem Protokollführer ab und schlug das Blatt auf, das die Zeichnung, die Beschreibung und die Vermessung enthielt. Sie ging nicht mehr in der Stube umher und suchte nicht mehr zu verbergen, daß ihr Blick an mir hing. An Verstellung dachte sie nicht mehr. In diesem Augenblicke konnte sie nicht daran denken. Bisher hatte sie sich mit ungeheurer Gewalt, mit großer Gewandtheit, auch mit Glück verstellt. Aber die Wahrheit besiegt zuletzt Gewalt, Gewandtheit, Glück.

Ich verglich die Breite des Ringes mit der in den Acten angegebenen Breite des schmaleren Ringes. Sie paßte auf das Genaueste. Ich legte den Ring auf die Abbildung in den Acten, und er deckte sie vollständig. Ich durfte keinen Zweifel mehr haben, wenigstens nicht für dasjenige, was ich zunächst zu thun hatte.

„Antonie Hein ist Ihr Name?“ fragte ich die Fremde.

„So heiße ich.“

„Antonie Hein, Sie sind meine Gefangene.“

Sie schrak nicht zusammen. Meine Vergleichungen in den Acten hatte sie mit jener Angst der Spannung verfolgt, über die sie nicht mehr Meister werden konnte. Meine erste Bewegung hatte ihr dann das Resultat verrathen. Wenn sie schuldig war, hatte sie es ohnehin vorhergesehen. Wie sie gewiß war, wie sie keinen Zweifel mehr hatte, trat der Trieb der Selbsterhaltung wieder in sein volles Recht bei ihr ein. Mit ihm die große Gewalt, die sie über sich besaß.

„Ich darf mir die Frage ersparen, warum?“ sagte sie. Der Ton ihrer Stimme war doch fragend und noch ungewiß.

Ich antwortete ihr nicht sogleich.

„Es ist wegen jenes Mordes,“ fuhr sie fort, nicht mehr fragend und mit völliger Sicherheit der Stimme. „Aber meine Unschuld wird an den Tag kommen. Sie glauben es jetzt nicht, mein Herr. Sie können es mir nicht glauben. Der Tag wird kommen, an dem Sie überzeugt sein werden.“

Unterdeß hatte ich mich besonnen, ob ich sofort weiter gegen

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